Für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig i. S. von § 826 BGB ist in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln und das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen.

BGH, Urteil vom 13.04.2021 – VI ZR 276/20

Sachverhalt: Der Kläger erwarb am 07.04.2016 von einem privaten Verkäufer einen gebrauchten ŠKODA Octavia RS. Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor des Typs EA189 ausgerüstet. Die Motorsteuerung war mit einer das Abgasrückführungsventil steuernden Software ausgestattet, die erkannte, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem „Neuen Europäischen Fahrzyklus“ (NEFZ) unterzogen wurde. In diesem Fall aktivierte sie einen Betriebsmodus („Modus 1“), in dem die Abgasrückführungsrate höher und deshalb der Stickoxid(NOX)-Ausstoß geringer war als in dem Modus, der außerhalb des Prüfstands – beim normalen Fahrbetrieb – aktiv war („Modus 0“). Die einschlägigen NOX-Grenzwerte wurden nur im „Modus 1“ eingehalten. Für die Erteilung der Typgenehmigung war der Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand maßgeblich.

Vor Abschluss des Kaufvertrags, am 22.09.2015, hatte die Beklagte die Öffentlichkeit in einer Ad-hoc-Mitteilung über vorgefundene Auffälligkeiten bei den Abgaswerten von Dieselfahrzeugen informiert. Im Oktober 2015 ordnete das Kraftfahrt-Bundesamt den Rückruf von Fahrzeugen mit dem Motor EA189 an und wies die Fahrzeughersteller an, Maßnahmen zu entwickeln und zu ergreifen, um die betroffenen Fahrzeuge in einen ordnungsgemäßen Zustand zu versetzen. Am 05.10.2015 teilte ŠKODA im Rahmen einer Presseerklärung mit, auch ŠKODA-Fahrzeuge mit Drei- und Vierzylinder-Dieselmotoren mit den Hubräumen 1,2 l, 1,5 l und 2,0 l seien vom Dieselskandal betroffen. Dies betreffe mehrere ŠKODA-Modelle, unter anderem auch den Octavia II. Die Beklagte entwickelte in der Folgezeit ein Softwareupdate, das das Kraftfahrt-Bundesamt als geeignet zur Herstellung der Vorschriftsmäßigkeit auch des hier streitgegenständlichen Fahrzeugtyps ansah. Der Kläger ließ das Softwareupdate am 17.05.2018 installieren.

Das Landgericht hat die Beklagte zum Ersatz des Kaufpreises in Höhe von 17.900 € nebst Zinsen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs und Zahlung einer Nutzungsentschädigung in Höhe von 5.445,90 €, verurteilt. Darüber hinaus hat es – soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse – festgestellt, dass die Beklagte mit der Rücknahme des Fahrzeugs in Annahmeverzug ist. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht den von der Beklagten zu leistenden Schadensersatz auf 12.454,10 € abzüglich einer weiteren Nutzungsentschädigung in Höhe von 0,06 € für jeden bis zur Rückgabe des Fahrzeugs über den Kilometerstand von 147.950 hinaus gefahrenen Kilometer reduziert. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung zurückgewiesen. Die Revision der Beklagten, die damit ihren Klageabweisungsantrag weiterverfolgte, hatte Erfolg.

Aus den Gründen: [5]    I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat die Beklagte dem Kläger in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich Schaden zugefügt. Die Schädigungshandlung liege in dem Inverkehrbringen des mit der streitgegenständlichen Umschaltlogik versehenen Motors. Mit dem Inverkehrbringen eines Fahrzeugs bringe der Hersteller konkludent zum Ausdruck, dass das Fahrzeug über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfüge, deren Fortbestand nicht aufgrund bereits bei Auslieferung des Fahrzeugs bestehender konstruktiver Eigenschaften gefährdet sei. Der Käufer eines Fahrzeugs könne davon ausgehen, dass im Zeitpunkt des Erwerbs des Fahrzeugs die notwendige EG-Typgenehmigung vorliege und keine nachträgliche Rücknahme oder Änderung drohe, weil die materiellen Voraussetzungen bereits bei ihrer Erteilung nicht vorgelegen hätten. Das vom Kläger erworbene Fahrzeug habe gerade nicht über eine dauerhaft ungefährdete Betriebserlaubnis verfügt, weil die installierte Motorsteuerungssoftware eine Umschaltlogik enthalten habe, die als unzulässige Abschalteinrichtung i. S. des Art. 5 I und II der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren sei. Diese Erwägungen gälten ungeachtet des Umstands, dass es vorliegend nicht um einen VW, sondern um einen ŠKODA gehe. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass der streitgegenständliche Motortyp von der Beklagten entwickelt, hergestellt und zum Zwecke des Einbaus in diverse Fahrzeuge unterschiedlicher Konzernunternehmen in den Verkehr gebracht worden sei. Der dem Kläger infolge dieses Verhaltens entstandene Schaden liege in dem Abschluss des Kaufvertrags vom 07.04.2016. Das schädigende Verhalten der Beklagten sei kausal für den Kaufvertragsabschluss. Es entspreche der Lebenserfahrung, dass der Kläger vom Kauf des Fahrzeugs Abstand genommen hätte, wenn ihm bekannt gewesen wäre, dass das Fahrzeug zwar formal über eine EG-Typgenehmigung verfüge, diese aber wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht hätte erhalten dürfen. Der Kausalverlauf sei auch nicht deshalb zu verneinen, weil der Kläger das Fahrzeug erst nach Aufdecken des Dieselabgasskandals und der Veröffentlichung der von der Beklagten abgegebenen Ad-hoc-Mitteilung und der Presseerklärung zum Thema VW-Dieselabgasskandal erworben habe. Die bloße generelle Kenntnis breiter Bevölkerungsschichten von der Dieselabgasproblematik als solcher sei nicht ausreichend, um den Kausalzusammenhang in Zweifel zu ziehen. Abzustellen sei vielmehr auf den konkreten Kenntnisstand des Klägers zum Zeitpunkt des konkreten Kaufvertragsschlusses. Der Kläger habe schlüssig dargetan, zum Erwerbszeitpunkt keine Kenntnis von der Betroffenheit seines Fahrzeugs von dem Dieselabgasskandal gehabt zu haben. In diesem Zusammenhang sei zu berücksichtigen, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug um ein Fahrzeug des Herstellers ŠKODA handle, bei dem sich die mögliche Betroffenheit nicht in gleicher Weise aufdränge wie bei Fahrzeugen der Beklagten. Die Schädigungshandlung der Beklagten sei auch als sittenwidrig zu qualifizieren. Als Beweggrund für das Inverkehrbringen des mit der unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Motors komme allein eine Kostensenkung und Gewinnmaximierung durch hohe Absatzzahlen in Betracht. Zwar sei ein Handeln mit Gewinnstreben nicht per se als verwerflich zu beurteilen. Im Hinblick auf das eingesetzte Mittel sei das Handeln hier aber verwerflich. Die unzulässige Abschalteinrichtung sei in einer hohen Zahl von Fahrzeugen verschiedener Marken des Konzerns verbaut worden mit der Folge einer entsprechend hohen Anzahl getäuschter Käufer. Die subjektiven Voraussetzungen der §§ 826, 31 BGB lägen ebenfalls vor.

[6]    II. Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Beklagte habe dem Kläger in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise Schaden zugefügt (§ 826 BGB). Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit rechtsfehlerhaft allein auf den Zeitpunkt der haftungsbegründenden Handlung abgestellt und das weitere Verhalten der Beklagten bis zum Eintritt des angenommenen Schadens nicht in den Blick genommen.

[7]    1. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der in einer Gesamtschau durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (st. Rspr., s. nur Senat, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15). Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (Senat, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15; Urt. v. 28.06.2016 – VI ZR 536/15, NJW 2017, 250 Rn. 16 m. w. Nachw.). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (Senat, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15; Urt. v. 07.05.2019 – VI ZR 512/17, NJW 2019, 2164 Rn. 8 m. w. Nachw.; Beschl. v. 19.01.2021 – VI ZR 433/19, ZIP 2021, 297 Rn. 14).

[8]    Fallen die erste potenziell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens wie – im Streitfall – zeitlich auseinander, ist der Bewertung eines schädigenden Verhaltens als (nicht) sittenwidrig das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten zugrunde zu legen. Denn im Falle der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung gemäß § 826 BGB wird das gesetzliche Schuldverhältnis erst mit Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten begründet; der haftungsbegründende Tatbestand setzt die Zufügung eines Schadens zwingend voraus. Deshalb kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber als nicht sittenwidrig zu werten sein (Senat, Urt. v. 08.12.2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 12; Urt. v. 23.03.2021 – VI ZR 1180/20 Rn. 10; Beschl. v. 09.03.2021 – VI ZR 889/20 Rn. 13, jeweils m. w. Nachw.). Hiervon ist insbesondere dann auszugehen, wenn wesentliche Elemente, die das bisherige Verhalten des Schädigers gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als besonders verwerflich erscheinen ließen, durch die Änderung seines Verhaltens derart relativiert werden, dass der Vorwurf der Sittenwidrigkeit bezogen auf sein Gesamtverhalten gegenüber dem später betroffenen Geschädigten und im Hinblick auf den Schaden, der diesem entstanden ist, nicht gerechtfertigt ist (vgl. Senat, Urt. v. 08.12.2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 14, 17; Urt. v. 23.03.2021 – VI ZR 1180/20 Rn. 10; Beschl. v. 09.03.2021 – VI ZR 889/20 Rn. 17 f.).

[9]    2. Diesen Grundsätzen genügt die angefochtene Entscheidung nicht. Die Revision rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit allein auf den Zeitpunkt der von ihm angenommenen Schädigungshandlung des Inverkehrbringens des mit der Manipulationssoftware versehenen Motors abgestellt und der von der Beklagten im Einzelnen aufgezeigten Änderung ihres Verhaltens ab 22.09.2015 in diesem Zusammenhang keine Bedeutung beigemessen hat. Aus seiner Sicht konsequent hat es den Vortrag der Beklagten zu den von ihr getroffenen Maßnahmen zur Information der Öffentlichkeit – auch über die Betroffenheit von Fahrzeugen der Konzernunternehmen – bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit nicht in den Blick genommen und insoweit keine Feststellungen getroffen.

[10]   III. Das Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 I ZPO).

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