Zur Schätzung der zu erwartenden Gesamtlaufleistung eines Fahrzeugs im Zusammenhang mit der Berechnung der gezogenen Nutzungsvorteile.

BGH, Urteil vom 23.03.2021 – VI ZR 3/20

Sachverhalt: Die Klägerin erwarb am 19.06.2015 einen gebrauchten, von der Beklagten hergestellten Pkw VW Sharan zum Preis von 23.500 € brutto (= 19.747,90 € netto). Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Typs EA189 ausgestattet. Dessen Motorsteuerungssoftware erkennt, ob sich das Fahrzeug im Fahrbetrieb oder im sogenannten Prüfstandbetrieb befindet, bei dem das Fahrzeug den für die amtliche Bestimmung der Fahrzeugemissionen maßgeblichen Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) durchfährt. Die Software sieht für die Betriebsarten zwei unterschiedliche Betriebsmodi vor. Im Prüfstandbetrieb wird der im Hinblick auf den Stickoxidausstoß optimierte „Modus 1“ aktiviert, der die Abgasrückführungsrate so weit erhöht, dass die gesetzlichen Grenzwerte für den Stickoxidausstoß, die für die Erteilung der EG-Typgenehmigung einzuhalten sind, nicht überschritten werden. Im realen Fahrbetrieb („Modus 0“) liegen die Stickoxidemissionen dagegen aufgrund einer geringeren Abgasrückführungsrate darüber.

Die Klägerin hat von der Beklagten erstinstanzlich die Zahlung von 23.500 € (Bruttokaufpreis) nebst Rechtshängigkeitszinsen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs, sowie den Ersatz vorgerichtlich entstandener Rechtsanwaltskosten verlangt. Außerdem hat sie die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten begehrt.

Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin – Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Pkw – 15.396,56 € nebst Rechtshängigkeitszinsen zu zahlen uhd ihr vorgerichtlich angefallene Rechtsanwaltskosen zu ersetzen. Darüber hinaus hat das Landgericht festgestellt, dass die Beklagte mit der Rücknahme des Fahrzeugs im Annahmeverzug sei. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin, mit der diese weitere 8.103,44 € sowie Deliktszinsen verlangt hat, zurückgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat es den Hauptausspruch des landgerichtlichen Urteils unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels dahin abgeändert, dass es die Beklagte zur Zahlung von 14.803,28 € nebst Rechtshängigkeitszinsen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs, verurteilt hat.

Mit ihrer Revision hat die Klägerin über den ihr in der Hauptsache zuerkannten Betrag von 15.396,56 € hinaus weitere 906,10 € und ferner Deliktszinsen aus dem Nettokaufpreis vom 19.06.2015 bis zur Rechtshängigkeit sowie Rechtshängigkeitszinsen ebenfalls aus dem Nettokaufpreis verlangt. Die Beklagte hat sich mit ihrer Revision gegen die Feststellung des Annahmeverzugs gewandt.

Nur das Rechtsmittel der Beklagten hatte Erfolg.

Aus den Gründen: [5]    I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts haftet die Beklagte der Klägerin auf Schadensersatz aus § 826 BGB wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung. Die vorsteuerabzugsberechtigte Klägerin könne die Rückzahlung des Nettokaufpreises verlangen, müsse sich aber nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung den Wert der von ihr gezogenen Nutzungen anrechnen lassen. Auf der Grundlage einer Gesamtlaufleistung von 300.000 km errechne sich unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der Übergabe absolvierten Laufleistung des Fahrzeugs (77.149 km) und der aktuellen Laufleistung (132.948 km) ein Nutzungsvorteil in Höhe von 4.944,62 €, woraus sich der zugesprochene Betrag von 14.803,28 € ergebe. Der Feststellung des Annahmeverzugs stehe nicht entgegen, dass die Klägerin zu viel gefordert habe, indem sie sich Nutzungsvorteile nicht habe anrechnen lassen. Das in dem Klageantrag liegende wörtliche Angebot sei so zu verstehen, dass die Klägerin ihre Leistung erbringe, wenn der Gegner die tatsächlich geschuldete Gegenleistung anbiete. Der in der klägerischen Berufung geltend gemachte Anspruch auf Zahlung von Zinsen aus § 849 BGB bestehe dagegen nicht, weil die Klägerin für das als Kaufpreis aufgewandte Geld die Nutzungsmöglichkeit über das Fahrzeug erhalten habe.

[6]    II. Die Revision der Klägerin ist unbegründet.

[7]    1. Der der Klägerin aus § 826 BGB zustehende Schadensersatzanspruch (vgl. Senat, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 = ZIP 2020, 1179 Rn. 13 ff.) beläuft sich vorliegend auf den von der vorsteuerabzugsberechtigten Klägerin aufgewendeten Nettokaufpreis abzüglich der von ihr gezogenen Nutzungsvorteile (Senat, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 = ZIP 2020, 1179 Rn. 64 ff.; Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 354/19, NJW 2020, 2796 Rn. 11). Der Einwand der Klägerin, die gezogenen Vorteile beliefen sich auf einen geringeren Betrag, weil nicht von einer Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs von 300.000 km, sondern von einer solchen von 350.000 km auszugehen sei, sodass ihr in der Hauptsache weitere 906,10 € zustünden, bleibt ohne Erfolg.

[8]    a) Die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs ist in erster Linie Sache des nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichters. Sie ist revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob der Tatrichter erhebliches Vorbringen der Parteien unberücksichtigt gelassen, Rechtsgrundsätze der Schadensbemessung verkannt, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen oder seiner Schätzung unrichtige Maßstäbe zugrunde gelegt hat. Es ist insbesondere nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, dem Tatrichter eine bestimmte Berechnungsmethode vorzuschreiben (st. Rspr., vgl. nur Senat, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 = ZIP 2020, 1179 Rn. 79 m. w. Nachw.).

[9]    b) Solche Fehler zeigt die Revision nicht auf und sind auch nicht ersichtlich.

[10]   Bei der gemäß § 287 ZPO vorzunehmenden Bemessung der anzurechnenden Vorteile ist das Berufungsgericht von folgender Berechnungsformel ausgegangen:

$$\text{Nutzungsvorteil} = {\frac{\text{Nettokaufpreis}\times\text{gefahrene Strecke (seit Erwerb)}}{\text{erwartete Restlaufleistung im Erwebszeitpunkt}}}$$

[11]   Diese Berechnungsmethode ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (Senat, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 354/19, NJW 2020, 2796 Rn. 12 f.), ebenso wenig der Umstand, dass das Berufungsgericht dabei die Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs auf 300.000 km geschätzt hat. Denn bei der Schadensschätzung steht ihm gemäß § 287 ZPO ein Ermessen zu, wobei in Kauf genommen wird, dass das Ergebnis unter Umständen mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt (Senat, Urt. v. 17.09.2019 – VI ZR 396/18, NJW 2020, 236 Rn. 13). Insbesondere ist die auf einer Prognose beruhende Schätzung der Gesamtfahrleistung durch das Berufungsgericht, die um rund 14 Prozent von der Schätzung der Klägerin abweicht, entgegen der Ansicht der Revision nicht unzulässig, weil sie mangels greifbarer Anhaltspunkte völlig in der Luft hinge (vgl. hierzu BGH, Urt. v. 22.05.1984 – III ZR 18/83, BGHZ 91, 243, 257 = juris Rn. 55; Urt. v. 26.11.1986 – VIII ZR 260/85, NJW 1987, 909, 910 = juris Rn. 10; Beschl. v. 13.11.2013 – IV ZR 224/13, VersR 2014, 104 Rn. 5). Unzutreffend ist in diesem Zusammenhang auch die Behauptung der Revision, das Berufungsgericht habe „keinerlei Begründung“ für die von ihm angenommene Gesamtlaufleistung gegeben. Denn es hat auf die Entscheidung des OLG Koblenz in BeckRS 2019, 11148 Rn. 88 verwiesen, das für den hier betroffenen Fahrzeugtyp VW Sharan im Hinblick auf Qualität, Haltbarkeit und Nutzungsbestimmung als Großraum-Van ebenfalls die Gesamtlaufleistung auf 300.000 km geschätzt hat. Die Klägerin selbst hat ihre Schätzung in der von der Revision in Bezug genommenen Berufungsbegründung lediglich darauf gestützt, dass das Fahrzeug "sehr robust" sei. Einer ausführlicheren Begründung des Berufungsgerichts für seine Schätzung bedurfte es bei dieser Sachlage nicht. Der Umstand, dass andere Oberlandesgerichte bei Ausübung ihres tatrichterlichen Ermessens in den von der Revisionsbegründung zitierten Entscheidungen, die allerdings andere Fahrzeugtypen betrafen, von einer höheren Gesamtlaufleistung ausgegangen sind, ist nicht geeignet, die Schätzung des Berufungsgerichts revisionsrechtlich infrage zu stellen. Das Berufungsgericht war nach alledem, anders als die Revision meint, nicht gehalten, auf eine Schätzung zu verzichten und zur Frage der zu prognostizierenden Gesamtlaufleistung des streitgegenständlichen Fahrzeugs ein Sachverständigengutachten einzuholen.

[12]   2. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung von Deliktszinsen gemäß § 849 BGB. Der Senat hält nach nochmaliger Prüfung an seiner in den Senatsurteilen vom 30.07.2020 (Senat, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 354/19, NJW 2020, 2796 Rn. 17–21, und Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 397/19, NJW 2020, 2806 Rn. 20–25) geäußerten Auffassung, mit der sich die Revision der Klägerin nicht auseinandersetzt, fest.

[13]   
3. Die Revision der Klägerin hat schließlich auch insoweit keinen Erfolg, als – ohne Begründung – Rechtshängigkeitszinsen aus dem vollen Nettokaufpreis verlangt werden. Denn der Ersatzanspruch der Klägerin ist, wie unter 1 ausgeführt und von der Revision der Klägerin an sich nicht in Frage gestellt, um die gezogenen Nutzungsvorteile zu reduzieren.

[14]   III. Die Revision der Beklagten ist begründet.

[15]   Das Berufungsgericht hätte nicht feststellen dürfen, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des Fahrzeugs im Annahmeverzug befindet. Im für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt, dem Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz, hat die Klägerin ihr Angebot zur Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs an unberechtigte Bedingungen geknüpft, nämlich an die Erstattung des vollen Bruttokaufpreises ohne Abzug gezogener Nutzungen und zuzüglich Deliktszinsen. Ein zur Begründung von Annahmeverzug geeignetes Angebot ist unter diesen Umständen nicht gegeben (Senat, Urt. v. 25.05.2020 – VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 = ZIP 2020, 1179 Rn. 85 m. w. Nachw.; Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 397/19, NJW 2020, 2806 Rn. 30). Die Gegenauffassung von Niemeyer/​König (NJW 2013, 3213, 3215), der das Berufungsgericht und die Klägerin folgen, teilt der Senat nicht. Das dort im Ausgangspunkt angeführte Argument, ein auf die Zahlung eines bestimmten Betrags gerichteter Klageantrag erfasse in der Regel auch die Verurteilung auf ein Weniger, hindert lediglich die vollständige Abweisung der Klage, wenn der Klagepartei ein geringerer Betrag als beantragt zusteht. Die Klage muss dann aber im Hinblick auf den ausdrücklich erklärten Willen im Übrigen abgewiesen werden. Die Fortführung dieser Argumentation, einem auf Zug-um-Zug-Leistung gerichteten Klageantrag sei trotz eines bestimmten, überhöhten Gegenleistungsverlangens der Wille zu entnehmen, die Klagepartei würde sich mit einem Weniger begnügen und die eigene Leistung gegen ein Weniger erbringen, entbehrt aus Sicht des Senats einer überzeugenden Grundlage. Der Senat hält an seiner Auffassung fest, dass die Forderung eines deutlich höheren als des geschuldeten Betrages als solche ein ordnungsgemäßes und damit wirksames Leistungsangebot ausschließt.

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