Der Käufer eines vom VW-Abgasskandal betroffenen VW Tiguan der – nicht mehr produzierten – ersten Generation hat auch dann keinen Nacherfüllungsanspruch (§§ 437 Nr. 1, 439 I Fall 2 BGB) auf Lieferung eines mangelfreien Fahrzeugs der zweiten Generation, wenn der Kaufvertrag einen Änderungsvorbehalt i. S. des § 308 Nr. 4 BGB enthält. Denn ein solcher Vorbehalt gibt dem Verkäufer ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht i. S. des § 315 I BGB, das heißt, er erweitert die Rechte des Verkäufers, während er den Käufer gleichzeitig auf eine Billigkeitskontrolle beschränkt. Dieser Charakter des Änderungsvorbehalts verbietet es, ihn bei der Auslegung des Kaufvertrages zur Begründung einer Benachteiligung des Verkäufers bei gleichzeitiger Erweiterung der Rechte des Käufers heranzuziehen.
LG Braunschweig, Urteil vom 19.05.2017 – 11 O 3605/16 (64)
Sachverhalt: Der Kläger begehrt im Zusammenhang mit dem sogenannten VW-Abgasskandal von der Beklagten die Ersatzlieferung (§ 439 I Fall 2 BGB) eines Neufahrzeugs.
Er kaufte von der Beklagten mit Kaufvertrag vom 13.06.2014 einen VW Tiguan der ersten Generation zum Preis von 31.772,16 €. Das Fahrzeug wurde dem Kläger am 11.06.2014 übergeben. Bestandteil des Kaufvertrages sind die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten. Diese enthalten im Abschnitt IV folgende Klausel:
„6. Konstruktions- oder Formänderungen, Abweichungen im Farbton sowie Änderungen des Lieferumfangs seitens des Herstellers bleiben während der Lieferzeit vorbehalten, sofern die Änderungen oder Abweichungen unter Berücksichtigung der Interessen des Verkäufers für den Käufer zumutbar sind. Sofern der Verkäufer oder der Hersteller zur Bezeichnung der Bestellung oder des bestellten Kaufgegenstandes Zeichen oder Nummern gebraucht, können allein daraus keine Rechte hergeleitet werden.“
Das Fahrzeug verfügt über eine Euro-5-Typzulassung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007. Ob der dort genannte Stickoxid(NOX)-Emissionsgrenzwert eingehalten wird, hängt davon ab, in welchem Ausmaß Abgase aus dem Auslassbereich des Motors über ein Abgasrückführungsventil in den Ansaugtrakt des Motors zurückgeleitet werden. In dem streitgegenständlichen Fahrzeug lässt eine Software, die das Abgasrückführungsventil steuert, eine Abgasrückführung in einem zur Einhaltung des Grenzwerts nötigen Umfang nur dann zu, wenn das Fahrzeug den zur Erlangung der Typgenehmigung zu absolvierenden synthetischen Fahrzyklus durchfährt.
Das Kraftfahrt-Bundesamt sieht in der genannten Software eine unzulässige Abschalteinrichtung i. S. von Art. 5 II, 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 und ordnete einen Rückruf der vom VW-Abgasskandal betroffenen Fahrzeuge an.
Der VW Tiguan der ersten Generation wird nicht mehr produziert. Er wurde durch Fahrzeuge einer neuen Modellgeneration, die unter demselben Namen verkauft werden, ersetzt.
Der Kläger ist der Auffassung, dass er mangelbedingt einen Anspruch auf Ersatzlieferung eines fabrikneuen VW Tiguan der zweiten Generation habe. Fahrzeuge dieser Generation – so behauptet der Kläger – unterschieden sich nur unwesentlich von Fahrzeugen der ersten Generation.
Die Klage hatte keinen Erfolg.
Aus den Gründen: 1. Anspruch auf Lieferung eines Neufahrzeugs aus der aktuellen Produktion
Einen Anspruch auf Lieferung eines Neufahrzeugs aus der aktuellen Produktion hat der Kläger bereits – trotz eines entsprechenden, mit Verfügung vom 23.03.2017 erteilten rechtlichen Hinweises – nicht schlüssig dargelegt.
a) Anspruch aus §§ 434 I, 437 Nr. 1, 439 I Fall 2 BGB
Ein Anspruch aus §§ 434 I, 437 Nr. 1, 439 I Fall 2 BGB scheidet aus, weil eine Auslegung des Vertrages nicht ergibt, dass der Kläger im Falle eines Mangels einen Anspruch auf Lieferung eines VW Tiguan der zweiten Generation hat.
Der Nachlieferungsanspruch kann nicht weiter reichen als der ursprüngliche Erfüllungsanspruch. Der Verkäufer schuldet nochmals die Übergabe des Besitzes und die Verschaffung des Eigentums einer mangelfreien Sache – nicht weniger, aber auch nicht mehr (BGH, Urt. v. 17.12.2012 – VIII ZR 226/11, juris Rn. 24).
Die aktuelle Generation des VW Tiguan weicht von der vom Beklagten gekauften Version ab, was – sollte dies zwischen den Parteien überhaupt wirklich streitig sein – gerichtsbekannt ist. Anders als die erste Generation basiert die zweite Generation auf dem neuen modularen Querbaukasten des VW-Konzerns. Die zweite Generation weicht auch in der Optik, ihren Motorleistungen und sonstigen technischen Weiterentwicklungen (etwa Fahrassistenzsysteme) von der ersten Generation ab. Das Fahrzeug ist insgesamt – wie bei einem Modellwechsel üblich – deutlich aufgewertet worden.
Dass der Kläger einen Anspruch auf die Lieferung eines VW Tiguan der zweiten Generation hat, folgt vorliegend auch nicht aus dem durch Auslegung zu ermittelnden Willen der Vertragsparteien bei Vertragsschluss (zur Erforderlichkeit der Vertragsauslegung vgl. BGH, Urt. v. 07.06.2006 – VIII ZR 209/05, juris Rn. 23). Auch unter Berücksichtigung der klägerseits zitierten Klausel der Vertragsbedingungen hat der Kläger keinen Anspruch auf Lieferung eines VW Tiguan aus der aktuellen Serienproduktion. Diese Klausel stellt nämlich rechtlich ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht des Verkäufers gemäß § 315 I BGB, also eine einseitige Erweiterung der Rechte des Verkäufers bei gleichzeitiger Beschränkung des Rechtes des Käufers auf eine Billigkeitskontrolle dar. Dieser Charakter der Klausel verbietet es, sie im Wege der Vertragsauslegung zur Begründung einer Benachteiligung des Verkäufers bei gleichzeitiger Erweiterung der Rechte des Käufers heranzuziehen. Die Annahme eines Anspruches des Klägers auf Lieferung auch eines Fahrzeugs der zweiten Generation würde nämlich einen erheblichen Nachteil für die Beklagte darstellen, könnte sie den Kläger nämlich damit nicht auf andere, für sie finanziell vorteilhaftere Gewährleistungsrechte verweisen.
b) Anspruch aus §§ 280 I, 241 II, 311 II BGB
Ein Anspruch auf Lieferung eines Neufahrzeugs ist auch unter dem Gesichtspunkt einer (nicht spezialgesetzlich geregelten) Prospekthaftung gemäß §§ 280 I, 241 II, 311 II BGB nicht schlüssig dargelegt. Eine Haftung im vorgenannten Sinne wurde von der Rechtsprechung für den sogenannten „grauen“, nicht organisierten Kapitalmarkt vor dem Hintergrund entwickelt, dass in jenem Markt der Emissionsprospekt die einzige Informationsquelle für den interessierten Kapitalanleger darstellt. Nur wenn die dortigen Angaben vollständig und richtig sind, kann der Interessent die ihm angebotene Kapitalanlage objektiv beurteilten und vor allem sein Anlagerisiko richtig einschätzen (vgl. BGH, Urt. v. 31.05.1990 – VII ZR 340/88, BGHZ 111, 314 ff.). Im vorliegenden Fall eines Autokaufs ist die Grundsituation gänzlich anders. Der Kunde kann sich nicht nur aus Verkaufsprospekten, sondern auch aus Testberichten einer Vielzahl einschlägiger Zeitschriften informieren. Ferner kann er sich ein vergleichbares Fahrzeug im Showroom anschauen und gegebenenfalls sogar Probe fahren.
c) Ansprüche im Zusammenhang mit einer unwirksamen EG-Übereinstimmungsbescheinigung
Der geltend gemachte Anspruch auf Lieferung eines Neufahrzeugs steht dem Kläger auch nicht unter dem Blickwinkel des Vorliegens einer, weil das Fahrzeug nicht allen maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften entspricht, unwirksamen EG-Übereinstimmungsbescheinigung zu.
aa) Es ist bereits fraglich, ob die EG-Übereinstimmungsbescheinigung überhaupt die Erklärung enthält, dass das Fahrzeug allen maßgeblichen Vorschriften entspricht. Zwar soll sie nach der Legaldefinition in Art. 3 Nr. 36 der Richtlinie 2007/46/EG und der ähnlich formulierten Zielbeschreibung in der Verordnung (EG) 385/2009 eine Erklärung im vorgenannten Sinne darstellen. Das eigentliche Muster enthält eine solche Erklärung dann aber – jedenfalls ausdrücklich – doch nicht.
bb) Sollte die EG-Übereinstimmungsbescheinigung eine Erklärung im vorgenannten Sinne tatsächlich enthalten, ist es fraglich, ob die inhaltliche Unrichtigkeit der Erklärung zur Ungültigkeit der Bescheinigung führt. Die (auch nach den nationalen Vorschriften) maßgebliche Vorschrift über den Inhalt der EG-Übereinstimmungsbescheinigung – Art. 18 der Richtlinie 2007/46/EG – enthält nämlich lediglich eine Anzahl einzuhaltender Kriterien formaler Natur. Eine Regelung betreffend die inhaltliche Richtigkeit der Bescheinigung über die Einhaltung der geltenden Rechtsvorschriften fehlt, könnte sich allenfalls aus der Legaldefinition in Art. 3 Nr. 36 der Richtlinie 2007/46/EG oder der Zielbestimmung der Verordnung (EG) 385/2009 ergeben. Aus einer Legaldefinition bzw. Zielbestimmung Rechtsfolgen herzuleiten, ist aber gesetzessystematisch mindestens bedenklich.
cc) Jedenfalls direkt aus der EG-Übereinstimmungsbescheinigung dürften sich Ansprüche nicht herleiten lassen:
Nach der in der Verordnung (EG) 385/2009 gewählten Formulierung stellt die Bescheinigung zwar eine „Versicherung“ des Herstellers dar, was für einen verpflichtenden Charakter sprechen könnte. Im Muster und damit in der eigentlichen Bescheinigung selbst ist aber wiederum nur von „Bestätigung“ die Rede, was eher gegen einen verpflichtenden Charakter spricht.
Vor allem aber ist davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber mit der oben genannten Richtlinie und der oben genannten die Richtlinie konkretisierenden Verordnung nicht einen neuen/neuartigen Anspruch des Käufers schaffen wollte. Ein solcher neuer/neuartiger Anspruch würde nämlich eine Sanktionierung von Regelverstößen des Herstellers darstellen. Die Schaffung von Sanktionen bei Regelverstößen des Herstellers sollte aber gemäß Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG ausdrücklich dem nationalen Gesetzgeber vorbehalten bleiben.
dd) Als vertrauensbegründende Maßnahme, aus der sich entsprechende Ansprüche ergeben könnten, dürfte die EG-Übereinstimmungsbescheinigung weiter ohnehin ausscheiden, weil sie zeitlich erst nach Abschluss des Kaufvertrages in Erfüllung desselben zusammen mit dem Fahrzeug zu übergeben ist.
ee) Letztlich können die vorgenannten Fragen allesamt dahinstehen, denn: Die Richtlinie 2007/46/EG und die sie konkretisierende Verordnung (EG) 385/2009 dienen ausweislich ihrer Gründe – im Wesentlichen – gesamtgesellschaftlichen Zielen, nämlich der Weiterentwicklung des Binnenmarktes und der Sicherstellung eines hohen Sicherheits- und Umweltschutzniveaus, – daneben – Interessen des Käufers allenfalls – was offenbleiben kann –, soweit er Probleme bei der Zulassung des Fahrzeugs bekommt, um die es vorliegend nicht geht.
d) Anspruch aus § 823 II BGB i. V. mit § 263 I StGB
Ein Anspruch auf Lieferung eines Neufahrzeuges ergibt sich auch nicht aus § 823 II BGB i. V. mit § 263 I StGB, § 249 I BGB. Als schädigendes Ereignis kommt nach der Darstellung des Klägers allein der Abschluss des verfahrensgegenständlichen Kaufvertrages in Betracht. Der Anspruch aus § 823 II BGB i. V. mit § 263 StGB aber ist auf Naturalrestitution gemäß § 249 I BGB gerichtet, das heißt darauf, den Geschädigten so zu stellen, wie er ohne das schädigende Ereignis stehen würde. Ohne Abschluss des verfahrensgegenständlichen Kaufvertrages aber hätte der Kläger auch kein Fahrzeug erhalten.
e) Anspruch aus § 823 II BGB i. V. mit § 4 Nr. 11 UWG, §§ 1, 5 Pkw-EnVKV
Ein Anspruch auf Lieferung eines Neufahrzeuges folgt auch nicht aus § 823 II BGB i. V. mit § 4 Nr. 11 UWG, §§ 1, 5 Pkw-ENVKV.
Es ist bereits fraglich, ob § 4 Nr. 11 UWG überhaupt Schutzgesetzcharakter hat (ausdrücklich ablehnend LG Limburg, Urt. v. 21.11.2014 – 5 O 18/14, juris Rn. 29; wohl auch BGH, Urt. v. 30.05.2008 – 1 StR 166/07, juris Rn. 87). Jedenfalls ist gegen die Vorschriften der §§ 1, 4 PKW-EnVKV gar nicht verstoßen worden. Diese gebieten – im Sinne einer Formalvorschrift – lediglich, dass die im Typgenehmigungsverfahren (vgl. § 2 Nrn. 5, 6 Pkw-EnVKV) erzielten Kraftstoffverbrauchs- und Emissionswerte zu nennen sind, was auch der Kläger nicht in Zweifel zieht.
f) Anspruch aus § 823 II BGB i. V. mit § 16 UWG
Ein Anspruch auf Lieferung eines Neufahrzeugs ergibt sich auch nicht aus § 823 II BGB i. V. mit § 16 UWG.
Der Kläger hat zunächst keine einzige Werbemaßnahme der Beklagten konkret dargelegt.
Auch kann wegen der Verletzung eines Schutzgesetzes Schadensersatz nur insoweit verlangt werden, als der entstandene Schaden in den funktionellen Schutzbereich der Norm fällt (Palandt/Sprau, BGB, 76. Aufl., § 823 Rn. 59). § 16 UWG dient zwar (unter anderem) dem Schutz des Verbrauchers, aber nur in dem Sinne, dass er vor Abschluss von Verträgen aufgrund unlauterer Werbung geschützt werden soll, nicht also dem hier geltend gemachten Erfüllungsinteresse.
Weiter und erst recht hat der Kläger nicht dargelegt, dass die Beklagte i. S. von § 16 I UWG den Anschein eines besonders günstigen Angebots hervorrufen wollte. Dem Täter des § 16 I UWG muss es darum gehen, dass der Verkehr die Leistung, die er tatsächlich anbietet, für besonders günstig hält, weil die Leistung in Bezug auf Qualität und Preis – besonders – vorteilhaft ist und/oder die Bedürfnisse des angesprochenen Verkehrs in Bezug auf das angebotene Produkt aus anderen Gründen – besonders – befriedigt, was tatsächlich nicht der Fall ist. Nach den Vorstellungen des Täters muss die Entscheidung des Adressaten für das Erwerbsgeschäft von dem angepriesenen – besonderen – Vorteil, der tatsächlich nicht gegeben ist, beeinflusst werden (Dreyer, in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, UWG, 3. Aufl., § 16 Rn. 31 f.; für § 4 UWG a.F. auch BGH, Urt. v. 26.10.1977 – 2 StR 432/77, BGHSt 27, 293 = juris Rn. 6 f.). Vorliegend geht die Darlegung des Klägers allenfalls – und auch insoweit nicht hinreichend vereinzelt – dahin, dass mit der – tatsächlich nicht gegebenen – Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Schadstoffwerte nach Euro 5 geworben wurde, die damals alle vergleichbaren Fahrzeuge am Markt einhalten mussten. Damit wurde also kein – besonderer – Vorteil angepriesen, auf den sich die Absicht der Verantwortlichen der Beklagten bezogen haben könnte.
g) Anspruch aus § 826 BGB
Ein Anspruch auf Lieferung eines Neufahrzeugs ergibt sich schließlich auch nicht aus § 826 BGB. Als ihn schädigendes Verhalten beruft sich der Kläger auf die sittenwidrige Herbeiführung des verfahrensgegenständlichen Kaufvertrages. Besteht der i. S. von § 826 BGB geltend gemachte Schaden in der sittenwidrigen Herbeiführung eines Vertrages, richtet sich der Anspruch indes allein auf Ersatz des negativen Interesses und nicht des vorliegend geltend gemachten Erfüllungsinteresses (Palandt/Sprau, a. a. O., § 826 Rn. 15).
2. Feststellung Annahmeverzug
Soweit der Kläger die Feststellung begehrt, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des ursprünglich gelieferten Fahrzeugs im Verzug befindet, ist die Klage ebenfalls nicht begründet, weil bereits nicht schlüssig. Die Beklagte befindet sich nicht im genannten Sinne im Annahmeverzug, weil der Kläger keinen Anspruch auf Lieferung eines Neufahrzeugs aus der aktuellen Produktion hat.
3. Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten
Ein Anspruch auf Erstattung seiner vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten steht dem Kläger mangels begründeter Hauptforderung ebenfalls nicht zu. …