Zur Gehörsverletzung bei vom Berufungsgericht angenommener Bindung an widersprüchliche Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 19.03.2015 – I ZR 139/14, juris Rn. 7 ff.).
BGH, Beschluss vom 20.05.2025 – VIII ZR 137/24
Sachverhalt: Der Kläger bot als Privatperson bei „mobile.de“ einen VW Käfer „Modell Hebmüller“ zum Preis zum 79.990 € an. In dem Inserat ist unter „Fahrzeugbeschreibung“ ausgeführt:
„Dieser seltene Hingucker wurde gem. Fahrgestellnr. 1953 produziert und 1954 zugelassen. 1. Lack. Verdeck ist neuwertig. Umgerüstet wurde lediglich der Motor […]“.
Bei Hebmüller-Fahrzeugen handelt es sich um VW-Käfer-Cabriolets, die in den 1940er-Jahren im Hebmüller-Werk gefertigt wurden. Das Werk brannte im Jahr 1949 ab. Mit den zu diesem Zeitpunkt noch nicht verbauten Fahrzeugteilen wurden danach im Karmann-Werk noch wenige weitere Hebmüller-Cabriolets gefertigt.
Auf das Inserat des Klägers hin nahm ein Mitarbeiter der beklagten Oldtimer-Fachhändlerin, der Zeuge M, Kontakt zu dem Kläger auf und erkundigte sich nach den genauen Umständen und nach dem Fahrzeugzustand. Eine Besichtigung des Fahrzeugs durch die Beklagte erfolgte nicht.
Wie mit M vereinbart, füllte der Kläger ein Kaufvertragsformular aus und sandte es unterschrieben per Fax an die Beklagte. In dem Formular bezeichnete er das Fahrzeug als „Marke: VW, Typ: Käfer“ und gab als Kaufpreis 79.000 € an. M trug sodann in das ihm übersandte Kaufvertragsformular unter „Sondervereinbarungen“ ein: „Es ist ein orig. Hebmüller-Cabrio.“ Unter „Typ“ ergänzte er das Wort „Hebmüller“. Die geänderte Version des Vertrags schickte er seinerseits unterschrieben an den Kläger. Daraufhin kontaktierte der Kläger den Zeugen M und teilte ihm mit, dass er nicht garantieren könne, dass es sich um einen originalen Hebmüller-Käfer handele, und dass er keine entsprechenden Nachweise vorlegen könne. Er – so das im Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils ausgewiesene und vom Berufungsgericht in Bezug genommene unstreitige Parteivorbringen – „vermute, dass das Fahrzeug bei Karmann produziert worden sei. Nachweise habe er aber nicht“. Daraufhin strich M die Ergänzung „Es ist ein orig. Hebmüller-Cabrio.“ und faxte den Vertrag dem Kläger zu, welchen dieser annahm.
Die Beklagte verweigerte in der Folgezeit die Abholung und Bezahlung des Fahrzeugs mit der Begründung, dass es sich um eine billige Replik handele.
Mit seiner Klage hat der Kläger beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 79.000 € nebst Zinsen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs, sowie von Standgeld in Höhe von 12 € pro Tag bis zur Abholung des Fahrzeugs zu verurteilen und festzustellen, dass sich die Beklagte in Annahmeverzug befindet. Die Beklagte hat widerklagend beantragt, den Kläger zu verurteilen, ihr entgangenen Gewinn aus einem Anschlusskaufvertrag in Höhe von 36.000 € zu ersetzen.
Ausweislich des im erstinstanzlichen Urteil wiedergegebenen und vom Berufungsgericht ebenfalls in Bezug genommenen Streitstands hat die Beklagte behauptet, der Kläger habe
„dem Zeugen M telefonisch erklärt […], dass das Fahrzeug nicht bei Hebmüller produziert, sondern nach dem Werksbrand bei Karmann gefertigt worden sei. Dabei würde es sich um eins von ca. 14 Hebmüller-Cabrios handeln, die einen noch höheren Wert hätten als die bei Hebmüller gefertigten Fahrzeuge“.
Bei dem Fahrzeug handele es sich jedoch um einen in den Jahren 2014 bis 2016 hergestellten billigen Nachbau, der auch nicht über den Originallack verfüge.
Das Landgericht hat Zeugen vernommen und Sachverständigenbeweis erhoben, der ergeben hat, dass es sich bei dem Fahrzeug um einen Um-/Nachbau auf der Basis einer VW-Käfer-Limousine als Exportmodell aus dem Jahr 1954 handelt, die nicht bei Karmann produziert wurde.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und der Widerklage in vollem Umfang stattgegeben. Zur Begründung hat es ausführt, das Fahrzeug sei infolge des als Beschaffenheit vereinbarten, aber nicht vorhandenen Erstlacks mangelhaft. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht der Klage mit Ausnahme der begehrten Verurteilung zur Zahlung der Standkosten stattgegeben und die Widerklage abgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen.
Die dagegen gerichtete Beschwerde der Beklagten, mit der sie ihr Begehren auf Zurückweisung der klägerischen Berufung weiterverfolgen wollte, hatte Erfolg. Das Urteil des Berufungsgerichts wurde im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Beklagten erkannt worden war. In diesem Umfang wurde die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.
Aus den Gründen: [11] II. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde von Interesse, im Wesentlichen ausgeführt:
[12] Der vorliegende Rechtsstreit entscheide sich nicht an der Frage des Vorliegens eines Sachmangels aufgrund der Lackierung des Fahrzeugs, sondern daran, ob der Kläger die Lieferung eines originalen, gegebenenfalls nach dem Werksbrand bei Karmann produzierten Hebmüller-Cabriolets geschuldet habe oder ob beiden Parteien bewusst gewesen sei, dass es sich nur möglicherweise um ein Original, möglicherweise aber auch lediglich um den Nachbau (Replika) eines solchen handele, und sie diese Unsicherheit bewusst zur Vertragsgrundlage gemacht hätten.
[13] Das Berufungsgericht sei bei verständiger Würdigung der konkreten Vertragsverhandlungen auf der Grundlage des Inserats und der sodann getroffenen Vereinbarung unter Berücksichtigung der wechselseitigen Parteiinteressen sowie weiterer Begleitumstände von Letzterem überzeugt.
[14] Zwar würden Beschreibungen in Inseraten Vertragsgrundlage im Sinne einer Sollbeschaffenheit der Kaufsache, wenn nicht später hiervon abweichende Vereinbarungen getroffen würden. Genau dies sei hier aber geschehen. Der Kläger habe nachvollziehbar dargelegt, dass er, nachdem er das Fahrzeug selbst importiert gehabt habe, nicht gewusst habe, ob es sich um einen Original-Hebmüller handele. Es sei auch glaubhaft, dass er die Beklagte über diesen für ihn wichtigen Punkt in Kenntnis gesetzt, mithin nur seine Vermutungen über die Herkunft des Fahrzeugs mitgeteilt habe. Das angefochtene Urteil führe hierzu unstreitig und deshalb das Berufungsgericht in tatsächlicher Hinsicht bindend aus:
„Daraufhin kontaktierte der Kläger den Zeugen M und teilte mit, nicht garantieren zu können, dass es sich um einen originalen Hebmüller-Käfer handele, und er keine Nachweise diesbezüglich vorlegen könne. Er vermute, dass das Fahrzeug bei Karmann produziert worden sei. Nachweise habe er aber nicht.“
Auch in der individuellen Vertragsgenese spiegele sich genau das wider, denn die durch die Beklagte in den Vertrag eingefügte Sondervereinbarung „Es ist ein orig. Hebmüller-Cabrio.“ sei gestrichen worden. Die Beklagte habe sich damit bewusst auf ein (für sie möglicherweise lukratives) Risikogeschäft eingelassen.
[15] III. Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde hat in der Sache Erfolg (§ 544 IX ZPO), weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 II 1 Nr. 2 Fall 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Denn es hat ausgehend von der Verkennung der fehlenden Bindungswirkung eines in sich widersprüchlichen Tatbestands gemäß § 529 I Nr. 1, § 314 ZPO den durch die erstinstanzlichen Angaben des Zeugen M bestätigten Beklagtenvortrag, der Kläger habe diesem im Rahmen der Vertragsverhandlungen am Telefon gesagt, bei dem zu verkaufenden Fahrzeug handele es sich um ein im Karmann-Werk gefertigtes Hebmüller-Cabrio, keine Bedeutung zugemessen und damit bei seiner Auslegung des Vertragsinhalts nicht erwogen.
[16] 1. Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG [2. Kammer des Zweiten Senats], Beschl. v. 30.09.2022 – 2 BvR 2222/21, NJW 2022, 3413 Rn. 26; Senat, Beschl. v. 13.12.2022 – VIII ZR 298/21, ZIP 2023, 972 Rn. 17; Beschl. v. 08.08.2023 – VIII ZR 20/23, NJW 2023, 3496 Rn. 12; jeweils m. w. N.). Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. nur Senat, Beschl. v. 08.08.2023 – VIII ZR 20/23, NJW 2023, 3496 Rn. 12; Beschl. v. 23.04.2024 – VIII ZR 35/23, NJW 2024, 2393 Rn. 11). Der Anspruch einer Partei auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist deshalb verletzt, wenn das Berufungsgericht Vortrag einer Partei aufgrund von rechtlichen Erwägungen nicht berücksichtigt, die im Prozessrecht keine Stütze finden (vgl. zu Vortrag in der Berufungsbegründung BGH, Beschl. v. 04.09.2019 – VII ZR 69/17, NJW-RR 2019, 1343 Rn. 9; Beschl. v. 08.08.2023 – VIII ZR 20/23, NJW 2023, 3496 Rn. 12; zu wegen zu Unrecht angenommener Bindung gemäß § 314 ZPO unberücksichtigtem Vortrag BGH, Beschl. v. 19.03.2015 – I ZR 139/14, juris Rn. 7 ff.).
[17] 2. Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 I GG anzulasten. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht die erstinstanzliche Aussage des Zeugen M zu den Angaben des Klägers im Rahmen der Vertragsverhandlungen – die den entsprechenden zentralen Beklagtenvortrag bestätigten und welche sich die Beklagte überdies auch zumindest konkludent zu eigen gemacht hat (vgl. BGH, Beschl. v. 24.03.2015 – VI ZR 179/13, NJW 2015, 2125 Rn. 17; Beschl. v. 06.09.2022 – VIII ZR 352/21, juris Rn. 15; jeweils m. w. N.; BeckOK-ZPO/Bacher, Stand: 01.03.2025, § 321a Rn. 42) keine Bedeutung zugemessen und sie damit bei der Entscheidung nicht erwogen hat.
[18] a) Im Ausgangspunkt zutreffend ist das Berufungsgericht allerdings davon ausgegangen, dass es nach § 529 I Nr. 1 ZPO grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des Gerichts des ersten Rechtszuges gebunden ist, zu denen auch die sogenannten tatbestandlichen Feststellungen gehören (vgl. BGH, Urt. v. 19.03.2004 – V ZR 104/03, BGHZ 158, 295, 300; Ball, in: Musielak/Voit, ZPO, 22. Aufl., § 529 Rn. 2 f.). Für die Frage, welche Tatsachen in erster Instanz vorgetragen, welche bestritten worden und welche unbestritten geblieben sind, erbringt der Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils gemäß § 314 ZPO Beweis (Ball, in: Musielak/Voit, a. a. O., § 529 Rn. 6). Die Beweiskraft des Tatbestands entfällt jedoch, soweit die Feststellungen Widersprüche oder Unklarheiten aufweisen (vgl. BGH, Urt. v. 17.05.2000 – VIII ZR 216/99, NJW 2000, 3007 unter II 2 a; Urt. v. 09.03.2005 – VIII ZR 381/03, NJW-RR 2005, 962 unter II 1 a; Urt. v. 17.03.2011 – I ZR 170/08, NJW-RR 2011, 1408 Rn. 11; Beschl. v. 19.03.2015 – I ZR 139/14, juris Rn. 10). Einen solchen Widerspruch muss das Berufungsgericht von Amts wegen berücksichtigen (BGH, Beschl. v. 19.03.2015 – I ZR 139/14, juris Rn. 10).
[19] b) Der landgerichtliche Tatbestand enthält vorliegend – was das Berufungsgericht übersehen hat – einen solchen Widerspruch: Einerseits wird als unstreitig dargestellt, dass der Kläger dem Zeugen M gesagt habe, er vermute, dass das Fahrzeug bei Karmann produziert worden sei; Nachweise habe er aber nicht. Andererseits schildert das Landgericht als streitigen Vortrag der Beklagten, der Kläger habe dem Zeugen M erklärt, dass das Fahrzeug nach dem Werksbrand bei Karmann gefertigt worden sei; damit würde es sich um eins von circa 14 Hebmüller-Cabrios handeln, die einen noch höheren Wert hätten als die bei Hebmüller selbst gefertigten Fahrzeuge. Diese Feststellungen sind miteinander nicht zu vereinbaren – entweder der Kläger hat die Produktion des zu verkaufenden Fahrzeugs im Karmann-Werk (ohne Einschränkungen) behauptet oder er hat sie lediglich vermutet und auf fehlende diesbezügliche Nachweise verwiesen.
[20] In Ermangelung eines nach § 314 ZPO bindenden Tatbestands scheidet auch eine Bindung des Berufungsgerichts an die tatbestandlichen Feststellungen des Landgerichts gemäß § 529 I Nr. 1 ZPO aus und hätte das Berufungsgericht daher dem behaupteten Beklagtenvortrag und der diesen bestätigenden Aussage des Zeugen M nachgehen müssen. Dies hätte vorliegend – da eine Würdigung der Aussage des Zeugen M im Vergleich zu den inhaltlich abweichenden Angaben des Klägers im Rahmen seiner persönlichen Anhörung vor dem Landgericht und insbesondere Ausführungen zur Glaubwürdigkeit der beiden Personen im Vernehmungsprotokoll und im erstinstanzlichen Urteil fehlen – eine Wiederholung der Beweisaufnahme durch das Berufungsgericht erfordert (vgl. BGH, Urt. v. 03.06.2014 – VI ZR 394/13, NJW 2014, 2797 Rn. 16 m. w. N.; Beschl. v. 27.04.2021 – VI ZR 845/20, NJW-RR 2021, 1074 Rn. 9; Beschl. v. 25.10.2022 – VI ZR 382/21, NJW-RR 2023, 636 Rn. 10 ff.). Dass die Beschwerde nicht ausdrücklich die Verletzung der § 529 I Nr. 1, § 314 ZPO rügt, ist dabei unschädlich; es genügt, dass sie auf ein im Ergebnis unberücksichtigt gebliebenes Beweismittel verweist und hierin eine Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 I GG sieht (vgl. BGH, Beschl. v. 09.02.2010 – XI ZR 140/09, juris Rn. 9; Beschl. v. 10.10.2013 – VII ZR 269/12, juris Rn. 9).
[21] c) Die dem Berufungsgericht unterlaufene Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich (§ 544 IX ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht, hätte es die in Bezug auf die Äußerung des Klägers im Rahmen der Vertragsverhandlung fehlende Bindungswirkung des landgerichtlichen Tatbestands erkannt, bei Berücksichtigung des Beklagtenvorbringens und der dieses bestätigenden erstinstanzlichen Aussage des Zeugen M durch die gebotene Wiederholung der Beweisaufnahme zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.
[22] 3. Die weiteren von der Nichtzulassungsbeschwerde erhobenen Rügen hat der Senat geprüft, jedoch nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 544 VI 2 Halbsatz 2 ZPO).
[23] IV. Nach alledem ist das Urteil des Berufungsgerichts in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben und der Rechtsstreit insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 IX ZPO). Der Senat macht dabei von der Möglichkeit des § 563 I 2 ZPO Gebrauch, der auch im Beschlussverfahren nach § 544 IX ZPO entsprechend herangezogen werden kann (Senat, Beschl. v. 08.08.2023 – VIII ZR 20/23, NJW 2023, 3496 Rn. 23 m. w. N.).