- Einem Verbraucher, der von einem Unternehmer ein – hier neuwertiges – Kraftfahrzeug kauft, steht grundsätzlich ein fernabsatzrechtliches Widerrufsrecht (§§ 312g I, 355 BGB) zu, wenn die Parteien für die Vertragsverhandlungen und den Vertragsschluss ausschließlich Fernkommunikationsmittel i. S. des § 312c II BGB verwendet haben. Das gilt ausnahmsweise nur dann nicht, wenn der Kaufvertrag nicht im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems geschlossen wurde.
- Der Verkäufer hat zu beweisen, dass ein unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln geschlossener Kaufvertrag nicht im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungssystems geschlossen wurde. Gegen das Bestehen eines solchen Systems spricht nicht, dass der Käufer das gekaufte Fahrzeuge bei dem Händler abholen muss. Denn ein nach Vertragsschluss stattfindender persönlicher Kontakt ist für die Frage, ob ein Fernabsatzvertrag i. S. des § 312c I BGB vorliegt, irrelevant.
LG Hamburg, Urteil vom 10.09.2024 – 314 O 10/24
Sachverhalt: Der Kläger nimmt die Beklagte auf Rückabwicklung eines Kaufvertrags über einen Pkw in Anspruch.
Das streitgegenständliche Fahrzeug, einen am 11.10.2022 erstzugelassenen MG ZS in der Ausstattungsvariante „Luxury“ mit einer Laufleistung von 100 km, bot die gewerblich handelnde Beklagte im Oktober 2022 auf der Internetplattform „mobile.de“ für 20.000 € zum Kauf an. Der Kläger, ein Verbraucher, interessierte sich für das Fahrzeug und wandte sich per E-Mail an die Beklagte, die ihm ein Formular zur verbindlichen Bestellung des Pkw übersandte. Dieses Formular unterzeichnete der Kläger und sandte es an die Beklagte zurück. Die Beklagte bestätigte die Bestellung per E-Mail und stellte am 02.11.2022 eine Rechnung über den Kaufpreis aus, die der Kläger beglich. Das Fahrzeug holte der Kläger am 16.11.2022 persönlich bei der Beklagten, die den Kläger – unstreitig – nicht über ein Widerrufsrecht belehrt hatte, in Osnabrück ab.
Mit E-Mail vom 11.11.2023 erklärte der Kläger den Widerruf seiner auf den Abschluss des streitgegenständlichen Kaufvertrags gerichteten Willenserklärung und wies darauf hin, dass es sich bei diesem Vertrag um einen Fernabsatzvertrag i. S. des § 312c I BGB handele. Die Beklagte bestätigte zwar mit E-Mail vom 14.11.2023 den Eingang des Widerrufs. Sie weigerte sich jedoch, das an den Kläger veräußerte Fahrzeug zurückzunehmen.
Der Kläger erklärte daraufhin mit Schreiben seiner späteren Prozessbevollmächtigten vom 29.11.2023 nochmals den Widerruf seiner Vertragserklärung und hilfsweise den Rücktritt von dem streitgegenständlichen Kaufvertrag wegen zahlreicher Mängel des erworbenen Fahrzeugs. Diese Mängel waren bereits zuvor zwischen den Parteien thematisiert worden. Der Kläger hatte der Beklagten angeboten, das Fahrzeug wegen der Mängel gegen Übernahme der Kosten vorzuführen, was die Beklagte abgelehnt hatte. Mit Schreiben vom 28.10.2023 hatte der Kläger der Beklagten eine Frist zur Nachbesserung bis zum 24.11.2023 gesetzt, die ergebnislos verstrichen ist.
Der Kläger macht geltend, die Beklagte habe ihm den Kaufpreis in Höhe von 20.000 (nebst Zinsen) gemäß § 355 III 1 BGB zurückzuzahlen. Ihm habe ein ein Widerrufsrecht gemäß §§312g, 355 BGB zugestanden, weil es sich bei dem streitgegenständlichen Kaufvertrag um einen Fernabsatzvertrag i. S. des § 312c I BGB handele. Die Parteien hätten für die Vertragsverhandlungen und den Vertragsschluss ausschließlich Fernkommunikationsmittel (§ 312c II BGB) verwendet, und die Beklagte unterhalte auch ein für den Fernabsatz organisiertes Vertriebs- oder Dienstleistungssystem. Hierzu hat der Kläger als Anlage K 15 den Ausdruck eines auf Facebook veröffentlichten Inserats der Beklagten vorgelegt. Dort heißt es in der Überschrift: „Wir liefern Ihren Traumwagen natürlich gratis zum Bestimmungsort!“ Außerdem hat der Kläger als Anlage K 17 den Ausdruck eines „Autoscout24.de“-Inserats der Beklagten vorgelegt, mit dem die Beklagte noch im Jahr 2024 für den Abschluss eines Kaufvertrags per „Klick“ geworben hat.
Der Kläger macht ferner zahlreiche Mängel des streitgegenständlichen Fahrzeugs geltend, die die Beklagte nicht innerhalb der ihr gesetzten Nachbesserungsfrist beseitigt habe. Unter anderem habe sich die Starterbatterie wiederholt vollständig entladen,die Rückfahrkamera funktioniere nicht, wenn gleichzeitig der Blinker gesetzt werde, und beim Einlegen des Rückwärtsgangs entstünden „Doppelbilder“. Wegen dieser und weiterer Mängel hat der Kläger hilfsweise die Verurteilung der Beklagten zur Rückzahlung des Kaufpreises nebst Zinsen unter Anrechnung der von ihm gezogenen Gebrauchsvorteile begehrt.
Außerdem hat der Kläger die Beklagte auf Ersatz vorgerichtlich entstandener Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.295,43 € in Anspruch genommen.
Die Beklagte hat geltend gemacht, dem Kläger habe kein Widerrufsrecht nach §§ 312g I, 355 BGB zugestanden. Zwar sei der streitgegenständliche Kaufvertrag unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln zustande gekommen, doch unterhalte sie kein für den Fernabsatz organisiertes Vertriebs- oder Dienstleistungssystem. Es fehle bereits am systematischen Versenden der Waren, das heißt der Fahrzeuge, die sie niemals versende. Auch der Kläger habe – unstreitig – sein Fahrzeug persönlich in Osnabrück abgeholt. Das Angebot in ihrer „Facebook“-Werbung sei auf die Zeit des damaligen Corona-Lockdowns (15.04.–30.4.2020) beschränkt gewesen, was sich auch aus dem Text der Anzeige ergebe. Dass das Inserat auch im Jahr 2024 noch auf „Facebook“ zu finden sei, liege daran, dass es nicht habe gelöscht werden können.
Die Beklagte hat die von dem Kläger behaupteten Mängel des Fahrzeugs bestritten und behauptet, dass sie zur Nachbesserung bereit gewesen sei.
Mit Schriftsatz vom 03.05.2024 hat die Beklagte der Herstellerin des streitgegenständlichen Fahrzeugs, der SAIC Motor Deutschland GmbH, den Streit verkündet. Die Herstellerin ist dem Rechtsstreit teilweise beigetreten, nämlich soweit ein Rücktritt des Klägers vom Kaufvertrag wegen Mängeln des Fahrzeugs in Betracht kommt.
Die Klage hatte Erfolg.
Aus den Gründen: Die zulässige Klage ist hinsichtlich sämtlicher Hauptanträge begründet. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Rückabwicklung des streitgegenständlichen Kaufvertrags nach wirksam erklärtem Widerruf zu.
Der ursprünglich wirksame Kaufvertrag vom 01.11.2022 ist durch den Widerruf des Klägers vom 11.11.2023 gemäß §§ 312c, 312g I, 355, 356 III BGB in ein Rückgewährschuldverhältnis umgewandelt worden. Danach hat die Beklagte den Kaufpreis Zug um Zug gegen Herausgabe und Rückübereignung des Fahrzeugs nebst Papieren und Zubehör zurückzuzahlen.
Die Voraussetzungen des § 312c BGB liegen vor.
Unstreitig zwischen den Parteien ist, dass der Vertragsschluss selbst ausschließlich mit Mitteln der Fernkommunikation erfolgte.
Weiterhin ist der Beklagten nicht der ihr obliegende Nachweis gelungen, dass der Vertragsschluss nicht im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebs- oder Dienstleistungsystems erfolgte (§ 312c I letzter Halbsatz BGB).
Voraussetzung hierfür ist, dass der Unternehmer in seinem Betrieb die personellen, sachlichen und organisatorischen Voraussetzungen geschaffen hat, die notwendig sind, um regelmäßig äfte im Fernabsatz zu bewältigen. Hierbei kommt es nicht auf einen großen sachlichen und personellen Aufwand an. Ausreichend ist die planmäßige Werbung des Unternehmers mit dem Angebot telefonischer Bestellung und Zusendung der Ware oder auch die Unterhaltung einer Homepage mit E-Mail-Bestellmöglichkeit. Dabei ist ein organisiertes Vertriebssystem auch dann gegeben, wenn ein Gebrauchtwagenhändler ein Fahrzeug-Vermittlungsportal nutzt, um auf elektronischem oder telefonischem Wege Kundenanfragen so zu bearbeiten, dass der Vertrag im Fernabsatzverkehr geschlossen wird (s. zu allem Erman/Koch, BGB, 17. Aufl. [2023], § 312c Rn. 8 m. ausführlichen w. Nachw.). Dabei ist es nicht schädlich, dass der Unternehmer nicht ausschließlich im Fernabsatz tätig wird. Auch die Anzahl der tatsächlichen Abschlüsse auf diesem Weg spielt keine Rolle, ebenso wenig die Art und Weise der tatsächlichen Leistungserbringung (vgl. Erman/Koch, a. a. O., § 312c Rn. 9)
Im vorliegenden Fall ergibt sich insbesondere – aber nicht nur – aus der Werbung der Beklagten wie mit Anlage K 15 dargelegt, dass die Durchführung der vertraglichen Abwicklung durch die Beklagte jedenfalls nicht nur im Falle des Klägers und auch nicht nur in weiteren Einzelfällen im Rahmen des Fernabsatzes erfolgt ist. So ist zum einen unstreitig, dass die Beklagte – und zwar unstreitig zeitlich unbegrenzt – ein System zum Abschluss des Vertrags ausschließlich mit Fernkommunikationsmitteln vorgehalten hat und auch weiterhin vorhält. So ergibt sich insbesondere aus der von Klägerseite weiter vorgelegten Anlage K 17, dass die Beklagte zum Beispiel über die Plattform „Autoscout24.de“ auch noch im aktuellen Jahr 2024 eine Möglichkeit zum Abschluss des Kaufvertrags über die von ihr angebotenen Fahrzeuge ausschließlich mit Fernkommunikationsmitteln bereitstellt. Streitig ist lediglich, ob die Beklagte im Rahmen dieses zur Verfügung gestellten Systems auch die Lieferung des Fahrzeugs zu den Kunden anbietet. Unstreitig hat der Kläger im vorliegenden Verfahren das Fahrzeug selbst bei der Beklagten abgeholt. Für die Bewertung eines konkreten Vertrags als Fernabsatzgeschäft spielt jedoch die tatsächliche Übermittlung eines Kaufgegenstands keine Rolle, da ein nach Vertragsschluss stattfindender persönlicher Kontakt irrelevant ist (vgl. MünchKomm-BGB/Wendehorst, 9. Aufl. [2022], § 312c Rn. 18 m. w. Nachw.)
Ob es dann darauf ankommt, dass die Beklagte im Rahmen des zur Verfügung gestellten Absatzsystems die mit Mitteln der Fernkommunikation erworbenen Fahrzeugzeuge grundsätzlich auszuliefern bereit und in der Lage ist, kann vorliegend dahinstehen. Die Beklagte hat jedenfalls nicht zur Überzeugung des Gerichts ausreichend nachgewiesen, dass sie dies nicht ist. So ergibt sich aus der Internetwerbung (Anlage K 15), dass die Beklagte jedenfalls mit dem Slogan „Wir liefern Ihren Traumwagen natürlich gratis zum Bestimmungsort!“ wirbt. Dieser Passus findet sich auch deutlich außerhalb des rot umrandeten Kastens mit den Einzelheiten des (dort auf den Zeitraum vom 15.04. bis 30.04.2020) begrenzten Rabatts und kann von den verständigen Kunden nur so verstanden werden, dass diese Liefermöglichkeit gerade nicht bis zum 30.04.2020 begrenzt gewesen ist.
Soweit die Beklagte darauf hinweist, dass sich diese Anzeige aus technischen Gründen nicht habe von ihrer Facebookseite entfernen lassen, spricht dies schon deshalb nicht gegen die unbegrenzte Dauer, wei auch bei Problemen mit der technischen Entfernung jedenfalls eine Korrekturmeldung und Richtigstellung hätte erfolgen können. Diese ist jedenfalls bis zur Klagerhebung offensichtlich nicht erfolgt.
Sofern die Mitarbeiterin M der Beklagten als Zeugin bestätigen soll, dass dieses Angebot nur vom 15.04. bis zum 30.04.2020 gegolten habe und lediglich wenige Kunden dies in Anspruch genommen hätten, kann dies jedenfalls die für Kunden wahrnehmbare Facebook-Werbung nicht widerlegen, da es nicht auf die tatsächliche Inanspruchnahme, sondern die Bereitstellung des entsprechenden Systems ankommt. Ihre Vernehmung war deshalb nicht geboten.
Dem steht auch nicht die Entscheidung des OLG Oldenburg vom 12.03.2020 – 14 U 284/19, juris – entgegen. Sofern es dort um einen echten Gebrauchtwagenkauf geht, bei dem davon auszugehen ist, dass die Kunden das Fahrzeug nicht ohne tatsächliche Besichtigung kaufen, ist dies mit dem vorliegenden Fall deshalb nicht zu vergleichen, weil es sich bei dem erst wenige Tage vorher zugelassenen und lediglich 100 km gefahrenen Fahrzeug jedenfalls für die Bewertung der Frage, ob ein Käufer dies Fahrzeug ohne weitere Besichtigung erwirbt, nicht um einen vergleichbaren Gebrauchtwagen wie im Fall des OLG Oldenburg handelt, sondern um ein (dort auch angesprochenes) neuwertiges Fahrzeug. Da die Beklagte neben den echten Gebrauchtwagen auch derartige Fahrzeuge anbietet, bei denen eine Besichtigung vor Abschluss des Kaufvertrags in der Regel nicht erfolgt, spricht dies nicht gegen ein organisiertes Fernabsatzsystem. Zudem war im Fall des OLG Oldenburg bereits streitig, ob der Abschluss des Vertrags im Rahmen eines organisierten Systems erfolgte ,ob also überhaupt ein generelles Angebot auf Durchführung des Vertragsschlusses mit Fernkommunikationsmitteln bestand. Dies steht hier aber vollständig außer Streit; der streitgegenständliche Vertrag kam gerade nicht „zufällig“ mit Fernkommunikationsmitteln zustande. Lediglich die Frage der generellen Zusendungsmöglichkeit und eben deren Erheblichkeit für die Annahme eines solchen Systems gibt hier den Ausschlag.
Die Beklagte hat deshalb den Kaufpreis Zug um Zug gegen Zurverfügungstellung des Fahrzeugs und der Papiere zu leisten.
Auf den ebenfalls wegen zahlreicher behaupteter Mängel des Fahrzeugs erklärten Rücktritt vom Kaufvertrag im Rahmen der Mängelgewährleistung kommt es deshalb nicht mehr an, insbesondere nicht auf das Vorhandensein dieser behaupteten Mängel.
Die Beklagte findet sich auch aufgrund der E-Mail vom 14.11.2023 (Anlage K 5) seit diesem Zeitpunkt im Annahmeverzug mit der Rücknahme des streitgegenständlichen Pkw.
Der Anspruch auf Zahlung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ergibt sich aus sect; 286 I 1, II Nr. 3, § 288 I BGB. Mit der Weigerung zur Rückabwicklung des widerrufenen Vertrags gemäß E-Mail vom 14.11.2023 (Anlage K 5) befand sich die Beklagte bei der Beauftragung der klägerischen Bevollmächtigten im Verzug. Die Berechnung der Klägerseite zur Höhe der vorgerichtlichen Kosten ist sachlich und rechnerisch korrekt. Mit dem Schreiben der Rechtschutzversicherung vom 18.12.2023 (Anlage K 19) hat diese den Kläger ermächtigt, die Kosten im eigenen Namen geltend zu machen.
Eine gesonderte Entscheidung über die Zulässigkeit der Nebenintervention gemäß § 71 I ZPO ist nicht zu treffen. Der Beklagten, die der Nebenintervenientin selbst den Streit verkündet hat, fehlt hierfür ein Antragsrecht, da die Nebenintervenientin dem Rechtsstreit auf ihrer Seite und nicht aufseiten des Klägers beigetreten ist (vgl. hierzu Zöller/Althammer, ZPO, 35. Aufl. [2024], § 71 Rn. 1 m. w. Nachw.). …