Zur in sachlicher Weise nicht gerechtfertigten Anwendung des § 522 II 1 ZPO in einem „Dieselverfahren“.
BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 08.09.2025 – 2 BvR 1760/22
Sachverhalt: Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurückweisung einer Berufung im Beschlusswege nach § 522 II ZPO in einem Fall des sogenannten Diesel-Abgasskandals.
Der Beschwerdeführer erhob vor dem Landgericht Passau Klage gegen die A-AG (im Folgenden: Beklagte) und verlangte Schadensersatz in Höhe des Kaufpreises von 16.248,51 € abzüglich einer Nutzungsentschädigung für einen Audi A6 3.0 TDI, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs. Er stützte seinen Anspruch auf § 826 BGB in Verbindung mit § 31 BGB analog sowie auf § 823 II BGB in Verbindung mit Art. 5 II der Verordnung (EG) Nr. 715/20071Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.06.2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge, ABl. 2007 L 171, 1.. Im Wesentlichen machte er geltend, dass die Beklagte den Motor des Fahrzeugs bewusst und gewollt mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung (sog. Thermofenster) ausgestattet habe. Diese führe dazu, dass die geltenden Grenzwerte der Typengenehmigung nur auf dem Prüfstand, nicht aber im Straßenverkehr eingehalten würden. Infolgedessen sei mit einer Entziehung der Betriebserlaubnis für das Fahrzeug zu rechnen.
Das Landgericht wies die Klage mit Urteil vom 02.07.2021 ab. Ein Anspruch ergebe sich weder aus § 826 BGB in Verbindung mit § 31 BGB analog noch aus § 823 II BGB in Verbindung mit § 263 StGB. Die Beklagte hafte auch nicht nach § 823 II BGB in Verbindung mit §§ 6, 27 EG-FGV. Es handele sich dabei nicht um Schutzgesetze, da sie nicht den Schutz individueller Interessen berücksichtigten.
Nachdem der Beschwerdeführer Berufung eingelegt hatte, wurden am 02.06.2022 die Schlussanträge in der beim Gerichtshof der Europäischen Union anhängigen Rechtssache C-100/21 (ECLI:EU:C:2022:420 – Mercedes-Benz Group) veröffentlicht. Die Vorlagefragen betrafen die Auslegung von Art. 5 II VO (EG) Nr. 715/2007 sowie von Art. 18 I, 26 I und 46 der Richtlinie 2007/46/EG2Richtlinie 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.09.2007 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge (Rahmenrichtlinie), ABl. 2007 L 263, 1.. Konkret ging es darum, ob diese Normen die Zielrichtung aufweisen, das Interesse individueller Erwerber von Kraftfahrzeugen zu schützen, kein mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattetes Fahrzeug zu erwerben, und ob und unter welchen Voraussetzungen das Unionsrecht in derartigen Fällen das Bestehen eines Schadensersatzanspruchs voraussetzt. Der Generalanwalt schlug vor, Art. 18 I, 26 und 46 der Richtlinie 2007/46/EG dahin auszulegen, dass sie die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Ferner schlug er vor, die Richtlinie dahin auszulegen, dass sie die Mitgliedstaaten verpflichtet vorzusehen, dass ein Fahrzeugerwerber einen Ersatzanspruch gegen den Fahrzeughersteller hat, wenn das Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Es sei Sache der Mitgliedstaaten, die Regeln für die Art und Weise der Berechnung des Schadensersatzes festzulegen, sofern dieser in Anwendung des Effektivitätsgrundsatzes dem erlittenen Schaden angemessen ist.
Der Bundesgerichtshof veröffentlichte am 01.07.2022 auf seiner öffentlich zugänglichen Internetseite eine Pressemitteilung (Nr. 104/2022), die einen für den 21.11.2022 anberaumten Verhandlungstermin des VIa. Zivilsenats zum Gegenstand hatte. Die Pressemitteilung hat unter anderem folgenden Wortlaut:
„In der mündlichen Verhandlung am 21.11.2022 wird auf die höchstrichterliche Rechtsprechung einzugehen sein, der zufolge ein Bescheid des Kraftfahrt-Bundesamts die rechtliche Beurteilung, ob eine Abschalteinrichtung nach dem Maßstab des Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zulässig ist, einer eigenständigen zivilgerichtlichen Prüfung nicht zu entziehen vermag […].
Ferner wird, sofern bis dahin eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-100/21 vorliegen wird, Gelegenheit bestehen, die sich aus einer solchen Entscheidung möglicherweise ergebenden Folgerungen für das deutsche Haftungsrecht zu erörtern. Auf diese Weise sollen den mit Dieselverfahren befassten erstinstanzlichen Gerichten und den Berufungsgerichten, die nach Veröffentlichung der Schlussanträge des Generalanwalts in dieser Rechtssache nunmehr auch aus Gründen der Gewähr effektiven Rechtsschutzes die vor ihnen eröffnete Tatsacheninstanz nicht schließen, sondern die Entscheidung des Gerichtshofs abwarten werden […], so bald als möglich im Anschluss an eine Entscheidung des Gerichtshofs höchstrichterliche Leitlinien an die Hand gegeben werden.“
Das Oberlandesgericht München wies den Beschwerdeführer mit Beschluss vom 19.07.2022 auf seine Absicht hin, die Berufung gemäß § 522 II ZPO als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen. Eine Haftung der Beklagten wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung gemäß §§ 826, 31 BGB beziehungsweise § 831 BGB bestehe offenkundig nicht. Das Vorliegen einer unzulässigen Prüfstanderkennungssoftware habe das Landgericht nicht festgestellt und auch nicht feststellen müssen. Eine Haftung folge auch nicht aus § 823 II BGB in Verbindung mit § 263 StGB. Ein auf Rückabwicklung des Kaufvertrags gerichteter Schadensersatzanspruch aus § 823 II BGB in Verbindung mit Art. 4 II Unterabs. 2 und Art. 5 I VO (EG) Nr. 715/2007 oder §§ 6 I, 27 EG-FGV komme ebenfalls nicht in Betracht. Der Bundesgerichtshof gehe in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Rechtslage in Hinblick auf §§ 6 I, 27 I EG-FGV von vornherein eindeutig sei („acte clair“). Die Schlussanträge in der Rechtssache C-100/21 gäben keine Veranlassung, von dieser gefestigten Rechtsprechung abzuweichen oder eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union beziehungsweise eine Aussetzung bis zu dessen Entscheidung in der genannten Rechtssache in Erwägung zu ziehen. Denn die Schlussanträge seien für den Gerichtshof nicht bindend. Selbst wenn der Gerichtshof ihnen folgen sollte, stünde es den Mitgliedstaaten weiterhin frei, einen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags wegen Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts zu verneinen, was gerade Gegenstand dieser Berufung sei. Die Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 01.07.2022 ändere daran nichts. Der Senat verstehe diese so, dass der Bundesgerichtshof nur vorsorglich einen Termin bestimmt habe, um sich gegebenenfalls zeitnah mit einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-100/21 befassen zu können. Dem könne aber nicht entnommen werden, dass der Bundesgerichtshof nunmehr davon ausgehe, dass in Hinblick auf die Schlussanträge des Generalanwalts kein acte clair mehr vorliege.
Der Beschwerdeführer teilte mit, dass er an der Berufung festhalte, und stellte einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-100/21.
Mit Beschluss vom 25.08.2022 wies das Oberlandesgericht München den Antrag auf Aussetzung des Verfahrens sowie die Berufung des Beschwerdeführers zurück. Zur Begründung verwies es im Wesentlichen auf die Ausführungen im Hinweisbeschluss. Der Beschluss wurde dem Bevollmächtigten des Beschwerdeführers am 30.08.2022 zugestellt.
Mit seiner fristgemäß am 30.09.2022 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügte der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 2 I GG in Verbindung mit Art. 20 III GG. Der hier entscheidungserheblichen Frage, ob die unionsrechtlichen Regelungen über die EG-Typengenehmigung auch dem Schutz des einzelnen Erwerbers dienten und daher in Verbindung mit § 823 II BGB einen Schadensersatzanspruch gegen den Hersteller begründen könnten, habe zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts grundsätzliche Bedeutung gehabt. Als Reaktion auf die Schlussanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-100/21, der entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs den Individualschutz der einschlägigen Regelungen des Unionsrechts und das Bestehen eines Schadensersatzanspruch gegen die Fahrzeughersteller bejaht habe, habe der Bundesgerichtshof beschlossen, ein bei diesem anhängiges Verfahren auszusetzen, welches diese Fragen ebenfalls zum Gegenstand gehabt habe. Der Bundesgerichtshof habe hierdurch zu erkennen gegeben, seine bisherige Rechtsprechung überprüfen zu wollen. Dieser ausdrücklichen Empfehlung sei das Oberlandesgericht im vorliegenden Fall nicht gefolgt. Die Zurückweisung der Berufung durch Beschluss sei unter keinem Gesichtspunkt vertretbar und daher willkürlich. Das Oberlandesgericht habe sich herausgenommen, entgegen der zu erwartenden Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union abschließend über eine Rechtsfrage zu entscheiden, die erst Gegenstand der höchstrichterlichen Rechtsprechung sein würde. Indem es in der angegriffenen Entscheidung darauf hinweise, die aufgeworfenen Fragen seien bereits von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beantwortet worden, habe es in willkürlicher Weise ignoriert, dass der Bundesgerichtshof die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-100/21 habe abwarten wollen.
Die Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
Aus den Gründen: [14] IV. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, da dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 I GG in Verbindung mit Art. 20 III GG angezeigt erscheint (§ 93b BVerfGG i. V. m. § 93a II lit. b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c I 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.
[15] 1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist das Rechtsschutzbedürfnis nicht dadurch entfallen, dass die entscheidungserhebliche Rechtsfrage durch die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geklärt wurde. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei Aufhebung der angegriffenen Entscheidung und Zurückweisung der Sache ein für den Beschwerdeführer günstiges Ergebnis in Betracht käme (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.02.1994 – 1 BvR 1693/92, BVerfGE 90, 22, 25 f.).
[16] Es ist nunmehr geklärt, dass dem Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs ein auf § 823 II BGB in Verbindung mit §§ 6 I, 27 I EG-FGV gestützter Schadensersatzanspruch gegen den Fahrzeughersteller zustehen kann, wenn und soweit ihm aufgrund des Vertragsschlusses ein Vermögensschaden nach Maßgabe der Differenzhypothese entstanden ist (vgl. BGH, Urt. v. 26.06.2023 – VIa ZR 335/21; Urt. v. 26.06.2023 – VIa ZR 533/21; Urt. v. 26.06.2023 – VIa ZR 1031/22). Das Oberlandesgericht hat keine Feststellungen getroffen, die eine Haftung der Beklagten nach diesen Maßgaben nach jeder Denkart ausgeschlossen hätte.
[17] 2. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 25.08.2022 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 I GG in Verbindung mit Art. 20 III GG.
[18] a) Das Gebot effektiven Rechtsschutzes, das für bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.06.1980 – 1 PBvU 1/79, BVerfGE 54, 277, 291; Beschl. v. 09.05.1989 – 1 BvL 35/86, BVerfGE 80, 103, 107; Beschl. v. 12.02.1992 – 1 BvL 1/89, BVerfGE 85, 337, 345; Beschl. v. 27.01.1998 – 1 BvL 15/87, BVerfGE 97, 169, 185), beeinflusst die Auslegung und Anwendung der Bestimmungen, die für die Eröffnung eines Rechtswegs und die Beschreitung eines Instanzenzugs von Bedeutung sind. Hat der Gesetzgeber sich für die Eröffnung einer weiteren Instanz entschieden und sieht die betreffende Prozessordnung dementsprechend ein Rechtsmittel vor, so darf der Zugang dazu nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1985 – 1 BvR 370/84, BVerfGE 69, 381, 385; Beschl. v. 11.02.1987 – 1 BvR 475/85 BVerfGE 74, 228, 234; Beschl. v. 02.12.1987 – 1 BvR 1291/85, BVerfGE 77, 275, 284). Dementsprechend beanstandet das Bundesverfassungsgericht eine den Zugang zum Rechtsmittel erschwerende Auslegung und Anwendung der einschlägigen zivilprozessualen Vorschriften dann, wenn sie aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen und damit schlechterdings unvertretbar sind, sich somit als objektiv willkürlich erweisen und dadurch den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar einschränken (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.02.1987 – 1 BvR 475/85 BVerfGE 74, 228, 234; BVerfG [2. Kammer des Ersten Senats], Beschl. v. 29.05.2007 – 1 BvR 624/03, BVerfGK 11, 235, 238 f.; Beschl. v. 23.10.2007 – 1 BvR 1300/06, BVerfGK 12, 341, 343 f.; BVerfG [2. Kammer des Zweiten Senats], Beschl. v. 04.09.2008 – 2 BvR 2162/07 und 2 BvR 2271/07, BVerfGK 14, 238, 242 f.). Dieser verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab gilt insbesondere auch für die Auslegung und Anwendung des § 522 II 1 ZPO (vgl. BVerfG [2. Kammer des Ersten Senats], Beschl. v. 29.05.2007 – 1 BvR 624/03, BVerfGK 11, 235, 238 f.; Beschl. v. 23.10.2007 – 1 BvR 1300/06, BVerfGK 12, 341, 343 f.; BVerfG [2. Kammer des Zweiten Senats], Beschl. v. 04.09.2008 – 2 BvR 2162/07 und 2 BvR 2271/07, BVerfGK 14, 238, 242 f.; BVerfG [2. Kammer des Ersten Senats], Beschl. v. 30.05.2012 – 1 BvR 509/11 Rn. 8; BVerfG [3. Kammer des Ersten Senats], Beschl. v. 17.06.2013 – 1 BvR 2246/11 Rn. 11; BVerfG [1. Kammer des Ersten Senats], Beschl. v. 05.07.2022 – 1 BvR 832/21 u. a. Rn. 12).
[19] b) § 522 II ZPO eröffnet die Möglichkeit, „substanzlose“ Berufungen im Interesse einer einfachen Erledigung sowie des Berufungsbeklagten an einer schnellen rechtskräftigen Entscheidung in einem schriftlichen Verfahren zurückzuweisen. Das Berufungsgericht darf die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn offensichtlich keine Erfolgsaussichten bestehen, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Einheitlichkeit der Rechtsprechung keine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist (vgl. BeckOK-ZPO/Wulf/Gaier, Stand: 01.07.2025, § 522 Rn. 13).
[20] Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 522 II 1 Nr. 2 ZPO kommt einer Sache zu, wenn sie eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Die Klärungsfähigkeit einer Rechtsfrage setzt die Revisibilität des anzuwendenden Rechts nach § 545 I ZPO voraus. Klärungsbedürftig sind solche Rechtsfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und die noch nicht oder nicht hinreichend höchstrichterlich geklärt sind (vgl. BVerfG [3. Kammer des Ersten Senats], Beschl. v. 25.03.2010 – 1 BvR 882/09, BVerfGK 17, 196, 200; BVerfG [1. Kammer des Ersten Senats], Beschl. v. 05.07.2022 – 1 BvR 832/21 u. a. Rn. 14).
[21] c) Gemessen an diesen Maßstäben hat das Oberlandesgericht die Vorschrift des § 522 II 1 ZPO in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise angewendet und dadurch das Gebot effektiven Rechtsschutzes verletzt. Die Annahme, die Sache hätte keine grundsätzliche Bedeutung und erfordere weder eine Entscheidung durch berufungsgerichtliches Urteil noch die Zulassung der Revision, ist aus Sachgründen nicht zu rechtfertigen.
[22] aa) Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts waren die Voraussetzungen für eine grundsätzliche Bedeutung der Sache erfüllt. Insbesondere war zu diesem Zeitpunkt erneut klärungsbedürftig geworden, ob die Vorschriften der §§ 6 I, 27 II EG-FGV sowie Art. 5 II VO (EG) Nr. 715/2007 „Schutzgesetze“ im Sinne des § 823 II BGB darstellen. Trotz hierzu bereits ergangener höchstrichterlicher Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind neue Umstände eingetreten, die Unklarheit über die Auslegung und Anwendung der entscheidungserheblichen Rechtsvorschriften hervorgerufen haben.
[23] Bereits mit Veröffentlichung der Schlussanträge des Generalanwalts im Vorabentscheidungsverfahren C-100/21 am 02.06.2022 zeichnete sich ab, dass die nationale Rechtslage in Bezug auf Schadensersatzansprüche von Käufern eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs anders bewertet werden könnte (vgl. Diehm, BB 2022, 2834, 2835; Helmig, EuZW 2023, 61, 62; von Westphalen, ZIP 2022, 1907, 1908). Spätestens aber durch die Veröffentlichung der Pressemitteilung Nr. 104/2022 des Bundesgerichtshofs am 01.07.2022 lagen zureichende Anhaltspunkte dafür vor, wonach wieder Zweifel über die Beantwortung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage bestanden und die Sache somit grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 522 II 1 Nr. 2 ZPO hatte. Die Pressemitteilung schilderte einen dem Ausgangsverfahren vergleichbaren Sachverhalt und wies auf mögliche Konsequenzen einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C-100/21 für das nationale Haftungsrecht hin. Zugleich wies die Pressemitteilung auf die Absicht des Bundesgerichtshofs hin, den mit den Dieselverfahren befassten Fachgerichten höchstrichterliche Leitlinien an die Hand geben zu wollen. Nach dem Inhalt der unmissverständlich formulierten Pressemitteilung musste sich den Fachgerichten daher aufdrängen, dass die ausstehende Entscheidung des Bundesgerichtshofs die einschlägige Rechtslage anders beurteilen könnte.
[24] bb) Das Oberlandesgericht hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 522 II 1 Nr. 2 ZPO in einer Weise angenommen, die aus Sachgründen nicht zu rechtfertigen ist.
[25] Zur Begründung seiner Auffassung, wonach die Pressemitteilung Nr. 104/2022 nicht zu Zweifeln an der Beantwortung entscheidungserheblicher Rechtsfragen führe, verweist es darauf, die Mitteilung sei so zu verstehen, dass der Bundesgerichtshof nur vorsorglich einen Termin bestimmt habe, um sich gegebenenfalls zeitnah mit einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union befassen zu können. Dem könne nicht entnommen werden, dass der Bundesgerichtshof nunmehr davon ausginge, in Hinblick auf die Schlussanträge des Generalanwalts läge kein „acte clair“ vor. Diese Ausführungen sind schlechterdings nicht nachvollziehbar. Sie stehen in einem unauflösbaren Widerspruch zum klar zum Ausdruck gebrachten Anliegen des Bundesgerichtshofs in dessen Pressemitteilung, sich angesichts der anstehenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-100/21 mit den dann aufgeworfenen Rechtsfragen erneut grundlegend befassen zu wollen.
[26] Ebenso wenig nachvollziehbar ist die vom Oberlandesgericht angestellte Erwägung, dass der VIa. Senat des Bundesgerichtshofs in einer Entscheidung vom 13.06.2022 – also kurz nach Veröffentlichung der Schlussanträge in der Rechtssache C-100/21 – an seiner bisherigen Rechtsprechung festgehalten habe (vgl. BGH, Urt. v. 13.06.2022 – VIa ZR 680/21, juris Rn. 23 f.). Die in dieser Entscheidung geäußerte Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs – in welcher überhaupt nicht auf die Schlussanträge eingegangen wurde – hat sich durch die nachfolgende Veröffentlichung der Pressemitteilung ersichtlich überholt.
[27] Nicht tragfähig erweist sich schließlich auch die Begründung, eine klärungsbedürftige Frage liege deshalb nicht vor, weil den Mitgliedstaaten weiterhin freistünde, einen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags wegen einer Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts zu verneinen, selbst wenn der Gerichthof der Europäischen Union den Anträgen des Generalanwalts folgen sollte. Diese Annahme änderte nichts daran, dass die Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfrage offen war, was das Oberlandesgericht mit der gegebenen Begründung grundlegend verkennt.
[28] V. Es war festzustellen, dass der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 25.08.2022 – 8 U 5204/21 – den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 I GG i. V. m. Art. 20 III GG verletzt (§ 93c II BVerfGG i. V. m. § 95 I 1 BVerfGG). Der Beschluss war aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht München zurückzuverweisen (§ 93c II BVerfGG i. V. m. § 95 II BVerfGG).
[29] Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a II BVerfGG.