Art. 16 lit. c der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates ist dahin auszulegen, dass die Ausnahme vom dort geregelten Widerrufsrecht einem Verbraucher, der außerhalb von Geschäftsräumen einen Kaufvertrag über eine Ware geschlossen hat, die nach seinen Spezifikationen herzustellen ist, unabhängig davon entgegengehalten werden kann, ob der Unternehmer mit deren Herstellung begonnen hat oder nicht.
EuGH (Sechste Kammer), Urteil vom 21.10.2020 – C-529/19 (Möbel Kraft GmbH & Co. KG/ML)
Das vorliegende Urteil betrifft die Auslegung von Art. 16 lit. c der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2011 L 304, 64). Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem ML, eine Verbraucherin, von der Möbel Kraft GmbH & Co. KG („Möbel Kraft“), einer deutschen Möbelverkaufsgesellschaft, auf Schadensersatz in Anspruch genommen wird, nachdem ML einen zwischen den Parteien geschlossenen Kaufvertrag widerrufen hat.
Sachverhalt: Auf einer gewerblichen Messe schlossen ML und Möbel Kraft einen Kaufvertrag über eine Einbauküche (im Folgenden: in Rede stehender Vertrag). Da ML sich später auf ein Widerrufsrecht berufen hatte und sich geweigert hatte, die Küche abzunehmen, erhob Möbel Kraft beim vorlegenden Gericht, dem AG Potsdam (Deutschland), eine Schadensersatzklage wegen Nichterfüllung des in Rede stehenden Vertrags durch ML.
Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Teile der vertragsgegenständlichen Küche, die von Möbel Kraft zur Zeit der Widerrufsentscheidung von ML noch nicht angefertigt worden waren, von einer anderen Firma nach einem Lochbild auf Fertigungsstraßen digital zusammengesetzt und bei ML von Mitarbeitern von Möbel Kraft – nicht der anderen Firma – eingebaut worden wären. Die vorgefertigten Teile hätten sich ohne Einbußen für den Unternehmer zurückbauen lassen; es wären nur die Nischenrückwand, die Arbeitsplatte sowie Blenden und Passstücke vor Ort angepasst worden und nicht woanders wiederverwendbar gewesen.
Das vorlegende Gericht fragt sich, ob nach § 312g II Nr. 1 BGB das Widerrufsrecht bei Verträgen über die Lieferung von Waren, für die eine individuelle Auswahl oder Bestimmung durch den Verbraucher maßgeblich ist oder die eindeutig auf ihn zugeschnitten sind, auch dann ausgeschlossen ist, wenn
a) der Verkäufer zur Zeit des Widerrufs noch nicht damit begonnen hatte, die Ware aus den Teilen zusammensetzen zu lassen, und
b) er sie vor Ort selbst, nicht durch Dritte, angepasst hätte und
c) sich die Ware mit nur geringen Rückbaukosten, etwa fünf Prozent des Warenwerts, wieder in den Zustand vor der Individualisierung hätte versetzen lassen.
Das vorlegende Gericht führt hierzu aus, der Bundesgerichtshof (Deutschland) habe in seiner Rechtsprechung vor Inkrafttreten der Richtlinie 2011/83 entschieden, dass das Widerrufsrecht nicht ausgeschlossen sei, wenn sich die Ware ohne Einbußen an Substanz und Funktionsfähigkeit mit verhältnismäßig geringem Aufwand wieder in den Zustand vor der Individualisierung versetzen lasse. Im Fall eines nach Käuferspezifikation hergestellten Computers habe der Bundesgerichtshof Rückbaukosten in Höhe von fünf Prozent des Warenwerts als noch verhältnismäßig geringen Aufwand angesehen.
Aus der Vorlageentscheidung geht weiterhin hervor, dass nach der Rechtsprechung des OLG Stuttgart (Deutschland) das Widerrufsrecht des Käufers einer individualisierten Ware auch dann ausgeschlossen ist, wenn der Unternehmer noch nicht damit begonnen hat, die Ware anzufertigen bzw. auf die persönlichen Bedürfnisse des Verbrauchers zuzuschneiden. In Teilen der deutschen Literatur werde diese Ansicht der Rechtsprechung jedoch nicht vertreten.
Vor diesem Hintergrund hat das AG Potsdam das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist das Widerrufsrecht gemäß Art. 16 lit. c der Richtlinie 2011/83 auch dann ausgeschlossen, wenn zwar Waren nach Kundenspezifikation angefertigt werden, der Verkäufer aber noch nicht mit der Anfertigung begonnen hat und die Anpassung beim Kunden selbst, nicht durch Dritte, vorgenommen hätte? Kommt es darauf an, ob sich die Waren mit nur geringen Rückbaukosten, etwa fünf Prozent des Warenwerts, wieder in den Zustand vor der Individualisierung hätten versetzen lassen?
Der EuGH hat diese Frage wie aus dem Leitsatz ersichtlich beantwortet.
Aus den Gründen: Zur Vorlagefrage
[15] Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 lit. c der Richtlinie 2011/83 dahin auszulegen ist, dass die Ausnahme vom dort geregelten Widerrufsrecht einem Verbraucher entgegengehalten werden kann, der außerhalb von Geschäftsräumen einen Kaufvertrag über eine Ware geschlossen hat, die nach seinen Spezifikationen herzustellen ist, obwohl der Unternehmer mit der Herstellung dieser Ware noch nicht begonnen hat.
[16] Zunächst ist festzuhalten, dass ein auf einer gewerblichen Messe geschlossener Vertrag als „außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossener Vertrag“ i. S. von Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2011/83 angesehen werden kann, wenn er nicht an einem Stand auf einer gewerblichen Messe geschlossen wurde; dieser könnte nämlich als „Geschäftsräume“ i. S. von Art. 2 Nr. 9 der Richtlinie 2011/83 angesehen werden (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 07.08.2018 – C-485/17, EU:C:2018:642 Rn. 43–46 – Verbraucherzentrale Berlin).
[17] Das vorlegende Gericht wird im Hinblick auf den ihm vorliegenden Sachverhalt nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung zu prüfen haben, ob der in Rede stehende Vertrag tatsächlich als „außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossener Vertrag“ i. S. von Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie 2011/83 anzusehen ist.
[18] Falls ja, so gewähren die Art. 9 bis 15 der Richtlinie 2011/83 dem Verbraucher ein Widerrufsrecht unter anderem bei außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Verträgen i. S. von Art. 2 Nr. 8 der Richtlinie und legen die Bedingungen und Verfahren für die Ausübung dieses Rechts fest.
[19] So steht dem Verbraucher nach Art. 9 I der Richtlinie 2011/83 grundsätzlich eine Frist von 14 Tagen zu, in der er einen außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag unter anderem ohne andere Kosten als in Art. 13 II und Art. 14 der Richtlinie vorgesehen widerrufen kann.
[20] Allerdings sieht Art. 16 dieser Richtlinie Ausnahmen vom Widerrufsrecht vor, insbesondere für den in Art. 16 lit. c geregelten Fall der außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträge über die Lieferung von „Waren …, die nach Kundenspezifikation angefertigt werden oder eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind“.
[21] Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind unionsrechtliche Vorschriften, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen, in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der Vorschrift, sondern auch ihres Regelungszusammenhangs und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Zwecks zu erfolgen hat (vgl. in diesem Sinne EuGH, Urt. v. 16.07.2020 – C?610/18, EU:C:2020:565 Rn. 50 – AFMB – und die dort angeführte Rechtsprechung).
[22] Dem Wortlaut von Art. 16 der Richtlinie 2011/83 nach haben die Mitgliedstaaten in ihren diese Richtlinie umsetzenden nationalen Regelungen vorzusehen, dass der Verbraucher sich auf das Widerrufsrecht unter anderem dann nicht berufen kann, wenn bestimmte Ereignisse nach Abschluss des außerhalb von Geschäftsräumen abgeschlossenen Vertrags eingetreten sind. Dies gilt für die in Art. 16 lit. a, e, i und m angeführten Umstände, in denen es um die Ausführung eines solchen Vertrags geht.
[23] Nach diesen Bestimmungen gilt diese Ausnahme, wenn „bei Dienstleistungsverträgen die Dienstleistung vollständig erbracht worden ist, wenn der Unternehmer die Erbringung mit der vorherigen ausdrücklichen Zustimmung des Verbrauchers … begonnen hatte“, „versiegelte Waren geliefert werden, die aus Gründen des Gesundheitsschutzes oder aus Hygienegründen nicht zur Rückgabe geeignet sind und deren Versiegelung nach der Lieferung entfernt wurde“, „Ton- oder Videoaufnahmen oder Computersoftware in einer versiegelten Packung geliefert wurden und die Versiegelung nach der Lieferung entfernt wurde“ sowie wenn „digitale Inhalte geliefert werden, die nicht auf einem körperlichen Datenträger geliefert werden, wenn die Ausführung mit vorheriger ausdrücklicher Zustimmung des Verbrauchers … begonnen hat“.
[24] Hingegen weist nichts im Wortlaut von Art. 16 lit. c der Richtlinie 2011/83 darauf hin, dass die Ausnahme von dem in dieser Bestimmung geregelten Widerrufsrecht von irgendeinem Ereignis abhängt, das nach dem Abschluss eines außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrags über die Lieferung von „Waren …, die nach Kundenspezifikation angefertigt werden oder eindeutig auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten sind“, eintritt. Vielmehr ergibt sich aus dem Wortlaut ausdrücklich, dass diese Ausnahme gerade zum Gegenstand eines solchen Vertrags gehört, nämlich der Herstellung einer Ware, die i. S. von Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 2011/83 nach Verbraucherspezifikation angefertigt ist, sodass diese Ausnahme dem Verbraucher unmittelbar entgegengehalten werden kann, ohne dass es darauf ankommt, ob ein solches Ereignis eintritt oder ob der Vertrag vom Unternehmer ausgeführt wurde oder wird.
[25] Diese Auslegung deckt sich mit dem Wortlaut von Art. 16 lit. c der Richtlinie 2011/83 und wird auch durch den Regelungszusammenhang bestätigt, in den dieser sich einfügt, insbesondere die in Art. 6 I lit. h und k der Richtlinie geregelte Pflicht, den Verbraucher, bevor er durch einen Vertrag im Fernabsatz oder einen außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag oder ein entsprechendes Vertragsangebot gebunden ist, darüber zu informieren, ob ein Widerrufsrecht besteht oder nicht.
[26] Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass mit Art. 6 I der Richtlinie 2011/83 sichergestellt werden soll, dass dem Verbraucher vor Abschluss eines Vertrags sowohl die Informationen über dessen Bedingungen und die Folgen des Vertragsschlusses übermittelt werden, die dem Verbraucher die Entscheidung ermöglichen, ob er sich vertraglich an einen Unternehmer binden möchte, als auch die Informationen, die zur ordnungsgemäßen Vertragserfüllung und vor allem zur Ausübung seiner Rechte, insbesondere seines Widerrufsrechts, erforderlich sind (EuGH, Urt. v. 10.07.2019 – C?649/17, EU:C:2019:576 Rn. 43 – Amazon EU – und die dort angeführte Rechtsprechung).
[27] Das Bestehen des Widerrufsrechts des Verbrauchers an ein zukünftiges Ereignis zu knüpfen, dessen Eintritt von der Entscheidung des Unternehmers abhängt, wäre jedoch mit dieser Pflicht zur vorvertraglichen Unterrichtung unvereinbar.
[28] Was im Übrigen die Ziele der Richtlinie 2011/83 betrifft, so ergibt sich insbesondere aus ihren Erwägungsgründen 7 und 40, dass mit ihr die Rechtssicherheit von Geschäften zwischen Unternehmern und Verbrauchern erhöht werden soll.
[29] Die in Rn. 24 des vorliegenden Urteils angeführte Auslegung von Art. 16 lit. c der Richtlinie 2011/83 trägt dazu bei, dieses Ziel zu erreichen, da damit Situationen vermieden werden, in denen das Bestehen oder der Ausschluss des Widerrufsrechts des Verbrauchers davon abhängen würde, wie weit die Vertragserfüllung durch den Unternehmer fortgeschritten ist; über diesen Fortschritt wird der Verbraucher üblicherweise nicht informiert, und er hat daher erst recht keinen Einfluss darauf.
[30] Nach alledem ist auf die gestellte Frage zu antworten, dass Art. 16 lit. c der Richtlinie 2011/83 dahin auszulegen ist, dass die Ausnahme vom dort geregelten Widerrufsrecht einem Verbraucher, der außerhalb von Geschäftsräumen einen Kaufvertrag über eine Ware geschlossen hat, die nach seinen Spezifikationen herzustellen ist, unabhängig davon entgegengehalten werden kann, ob der Unternehmer mit deren Herstellung begonnen hat oder nicht.