Die Daimler AG hat Käufer ihrer mit einem „Thermofenster“ versehenen Fahrzeuge auch dann nicht i. S. von § 826 BGB in sittenwidriger Weise vorsätzlich geschädigt, wenn ein „Thermofenster“ eine unzulässige Abschalteinrichtung i. S. von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 II der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ist. Denn anders als den Verantwortlichen der Volkswagen AG kann den Verantwortlichen der Daimler AG nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass sie im Bewusstsein agiert haben, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Vielmehr muss insbesondere mit Blick darauf, dass als Rechtfertigung für ein „Thermofenster“ ernsthaft erwogen werden kann, den Motor vor Schädigung zu schützen, in Betracht gezogen werden, dass die Verantwortlichen der Daimler AG das Recht (möglicherweise) falsch, aber dennoch vertretbar ausgelegt und angewendet haben.
OLG Koblenz, Urteil vom 20.01.2020 – 12 U 1593/19
Sachverhalt: Der Kläger erwarb am 04.02.2017 von einem privaten Verkäufer für 13.000 € einen gebrauchten, am 07.11.2011 erstzugelassenen Pkw Mercedes-Benz C 220 CDI mit einer Laufleistung von 69.838 km.
Das Fahrzeug ist werksseitig mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Euro 5) ausgestattet. Für den Fahrzeugtyp wurde eine Typgenehmigung nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 mit der Schadstoffklasse Euro 5 erteilt.
Bei dem Pkw des Klägers wird ein variabler Anteil der Abgase wieder der Verbrennung im Motor zugeführt, was zu einer Verringerung der Stickoxid(NOX)-Emissionen führt. Das Ausmaß der Abgasrückführung hängt unter anderem von der Außentemperatur ab, wobei zwischen den Parteien streitig ist, bei welchen Außen- oder Ladelufttemperaturen die Abgasrückführung reduziert wird („Thermofenster“).
Der Kläger behauptet, die Beklagte habe auch in seinem Fahrzeug eine Software installiert, die bewirke, dass bei einem Emissionstest auf einem Prüfstand Messwerte erreicht würden, die unter den tatsächlichen Emissionswerten und den einschlägigen Grenzwerten lägen, während im normalen Fahrbetrieb die einschlägigen Grenzwerte nicht eingehalten würden. Die Beklagte habe in das Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung in Gestalt eines „Thermofensters“ implementiert: Zumindest bei Temperaturen von unter 7 °C finde keine Abgasrückführung mehr statt liege. Damit habe die Beklagte aus reinem Gewinnstreben gezielt Umweltvorgaben umgangen und die Kaufentscheidung ihrer Kunden manipulativ beeinflusst, die Wettbewerber benachteiligt und die Umwelt geschädigt, sodass Gesundheitsgefahren drohten. Das streitgegenständliche Fahrzeug habe dadurch einen erheblichen Wertverlust erlitten.
Der Kläger hat in erster Instanz beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 12.762,10 € nebst Zinsen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Mercedes-Benz C 220 CDI, und zum Ersatz vorgerichtlich entstandener Rechtsanwaltskosten in Höhe von 958,19 € zu verurteilen.
Die Beklagte hat geltend gemacht, im Fahrzeug des Klägers sei keine unzulässige Abschalteinrichtung installiert.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Kläger weder Ansprüche aus § 826 BGB noch aus § 823 II BGB i. V. mit § 263 StGB zustünden. Die Auslegung der Beklagten, die von ihr eingesetzte temperaturgesteuerte Abgasrückführung sei eine (zulässige) Einrichtung zum Schutz des Motors i. S. von Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 sei jedenfalls vertretbar, sodass der Beklagten nicht der Vorwurf einer sittenwidrigen schädigenden Handlung gemacht werden könne. Dies gelte selbst dann, wenn anstelle der temperaturgesteuerten Abgasrückführung heutzutage „bessere Technologien“ zur Verfügung stünden, um niedrigere Emissionen zu ermöglichen. Die Beklagte dürfe auch in diesem Fall unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten der Überzeugung sein, in Verfolgung eines erlaubten Interesses zu handeln. Ein Anspruch aus § 823 II BGB i. V. mit § 263 StGB scheitere bereits an der fehlenden Stoffgleichheit von Vermögensschaden und erstrebten Vermögensvorteil, da der Kläger das Fahrzeug nicht unmittelbar von der Beklagten erworben habe.
Mit seiner dagegen gerichteten Berufung hat der Kläger sein Klagebegehren unverändert weiterverfolgt und geltend gemacht, das in seinem Fahrzeug vorhandene „Thermofenster“ sei eine unzulässige Abschalteinrichtung. Ein Fahrzeughersteller, der – wie die Beklagte – vom grundsätzlichen Verbot von Abschalteinrichtungen abweichen wolle, müsse dies besonders rechtfertigen. Die Beklagte habe indes nicht nachgewiesen, dass das „Thermofenster“ erforderlich sei, um der Gefahr einer Versottung des Motors zu begegnen. Im Übrigen ergebe sich der geltend gemachte Anspruch auch aus § 823 II BGB i. V. mit §§ 6, 27 I EG-FGV.
Die Berufung hatte keinen Erfolg.
Aus den Gründen: II. … 1. Dem Kläger steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf Schadensersatz aus § 826 BGB wegen eines von ihm behaupteten Vermögensschadens infolge der Ausstattung des Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu. Dem Kläger ist von der Beklagten nicht in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich ein Schaden zugefügt worden.
a) Zunächst ist in prozessualer Hinsicht festzuhalten, dass der Senat nicht gehalten war, den vorliegenden Rechtsstreit im Hinblick auf die vom LG Frankenthal zu dem dortigen Aktenzeichen 2 O 13/19 beantragte Vorabentscheidung des EuGH nach Art. 267 I lit. a, II AEUV auszusetzen. Gegenstand des dortigen Vorlageverfahrens ist die Fragestellung, wie der im Zusammenhang mit der ausnahmsweise statuierten Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung zum Schutz des Motors vor Beschädigung oder Unfall oder zur Gewährleistung eines sicheren Betriebs des Fahrzeugs verwendete Begriff „notwendig“ i. S. des Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 auszulegen ist. Die Beantwortung dieser Fragestellung hat für die Beurteilung des dem Senat zur Entscheidung vorgelegten Sachverhalts keine rechtlichen Auswirkungen. Unabhängig von der Frage der unionsrechtlichen Zulässigkeit eines in dem Fahrzeug des Klägers verbauten „Thermofensters“ hat die Klage – und damit auch die gegen das klageabweisende Urteil gerichtete Berufung des Klägers – aus anderen, im Folgenden noch darzulegenden Gründen keinen Erfolg.
Es ist grundsätzlich ausschließlich Sache der mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichte, die die Verantwortung für die abschließende richterliche Entscheidung tragen, unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Rechtsstreits sowohl die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung als auch den Gegenstand und die Erheblichkeit von dem EuGH vorzulegenden Fragen festzulegen (EuGH, Urt. v. 16.03.1999 – C-159/97, ECLI:EU:C:1999:142 = juris Rn. 14 – Castelletti, unter Hinweis u. a. auf EuGH, Urt. v. 27.02.1997 – C-220/95, Slg. 1997, I-01147 = ECLI:EU:C:1997:91 Rn. 16 – van den Boogaard; Zöller/Geimer, ZPO, 33. Aufl. [2020], Art. 1 EuGVVO Rn. 7). Konsequenterweise muss dann auch die Frage, ob ein Rechtsstreit im Hinblick auf eine anderweitig beantragte Vorabentscheidung des EuGH auszusetzen ist, der sachlichen Entscheidungsbefugnis des nationalen Gerichts, jeweils unter Berücksichtigung des konkret zu entscheidenden Sachverhalts, überlassen bleiben. Es besteht deshalb für den Senat aus tatsächlichen Gründen keine Veranlassung, den Rechtsstreit auszusetzen.
b) Soweit der Kläger sein Anspruchsbegehren primär darauf stützt, die Beklagte habe ihm gemäß § 826 BGB in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich einen Schaden zugefügt, vermag der Senat seiner rechtlichen Argumentation vor dem Hintergrund der von ihm dargelegten Tatsachengrundlage nicht zu folgen.
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflichtverletzung und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Dabei kann es auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Sie kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (BGH, Urt. v. 28.06.2016 – VI ZR 536/15, juris Rn. 16). Bezüglich des Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden kommt es wesentlich auf die berechtigten Verhaltenserwartungen im Verkehr an (Staudinger/Oechsler, BGB, Neubearb. 2014, § 826, Rn. 31).
Ausgehend von diesen Maßstäben ist das Verhalten der Beklagten, ein mit einem Motor ausgestattetes Fahrzeug, in dessen Steuerung ein „Thermofenster“ installiert, in den Verkehr zu bringen, im vorliegenden Fall nicht als sittenwidrige Handlung einzustufen. Dabei kommt es hier nicht darauf an, ob das im streitgegenständlichen Fahrzeug installierte „Thermofenster“ eine objektiv unzulässige Abschalteinrichtung darstellt oder nicht. Bei einer sogenannten Schummelsoftware, wie sie in dem VW-Motor EA189 verwendet worden ist, ergibt sich die Sittenwidrigkeit des Handelns per se aus der Verwendung einer Umschaltlogik, die – auf den Betriebszustand des Fahrzeugs abstellend – allein danach unterscheidet, ob sich dieses auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet. Eine solche Abschalteinrichtung ist eindeutig unzulässig; an dieser rechtlichen Wertung kann auch aus Sicht der Handelnden bzw. der hierfür Verantwortlichen kein Zweifel bestehen. Bei einer anderen die Abgasreinigung (Abgasrückführung oder Abgasnachbehandlung) beeinflussenden Motorsteuerungsssoftware, wie dem hier in Rede stehenden „Thermofenster“, die vom Grundsatz her im nomalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand und bei der Gesichtspunkte des Motor- respektive des Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft erwogen werden können, kann bei Fehlen jedweder konkreter Anhaltspunkte nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Veranwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein agiert haben, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Vielmehr muss in dieser Situation, selbst wenn hinsichtlich des „Thermofensters“ von einer objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung auszugehen sein sollte, eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe der Beklagten in Betracht gezogen werden (Senat, Urt. v. 21.10.2019 – 12 U 246/19, BeckRS 2019, 25135 Rn. 31; so auch OLG Stuttgart, Urt. v. 30.07.2019 – 10 U 134/19, MDR 2019, 1248; OLG Köln, Beschl. v. 04.07.2019 – 3 U 148/18, juris Rn. 6). Eine Sittenwidrigkeit kommt daher hier nur in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von der Verwendung einer Software mit der in Rede stehenden Funktionsweise in dem streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies vonseiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen, und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde (OLG Stuttgart, Urt. v. 30.07.2019 – 10 U 134/19, MDR 2019, 1248; OLG Köln, Beschl. v. 04.07.2019 – 3 U 148/18, juris Rn. 6). Solche Anhaltspunkte hat der Kläger weder vorgetragen, noch sind diese anderweitig ersichtlich.
Solange daher in Betracht zu ziehen ist, dass die Beklagte die Rechtslage fahrlässig verkannt hat, fehlt es in subjektiver Hinsicht an dem für die Sittenwidrigkeit erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit (vgl. Palandt/Sprau, BGB, 78. Aufl. [2019], § 826 Rn. 8). Dass aufseiten der Beklagten die Erkenntnis eines möglichen Gesetzesverstoßes zumindest in Form eines billigenden Inkaufnehmens desselben, vorhanden war, ist von dem – insoweit darlegungs- und beweispflichtigen – Kläger weder dargetan noch aus den Gesamtumständen ersichtlich.
Die europarechtliche Gesetzeslage ist an dieser Stelle nicht unzweifelhaft und nicht eindeutig. Dies zeigt bereits die kontrovers geführte Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007.
Nach Einschätzung der vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur eingesetzten Untersuchungskommission „Volkswagen“ liegt ein Gesetzesverstoß durch die von allen Autoherstellern eingesetzten „Thermofenster“ jedenfalls nicht eindeutig vor. So heißt im Bericht der Kommission zur Auslegung der Ausnahmevorschrift des Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ausdrücklich:
„Zudem verstößt eine weite Interpretation durch die Fahrzeughersteller und die Verwendung von Abschalteinrichtungen mit der Begründung, dass eine Abschaltung erforderlich ist, um den Motor vor Beschädigungen zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten, angesichts der Unschärfe der Bestimmung, die auch weite Interpretationen zulässt, möglicherweise nicht gegen die Verordnung (EG) Nr. 715/2007.
Konsequenz dieser Unschärfe der europäischen Regelung könnte sein, dass unter Berufung auf den Motorschutz die Verwendung von Abschalteinrichtungen letztlich stets dann gerechtfertigt werden könnte, wenn von Seiten des Fahrzeugherstellers nachvollziehbar dargestellt wird, dass ohne die Verwendung einer solchen Einrichtung dem Motor Schaden droht, sei dieser auch noch so klein.“
(Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur [Hrsg.], Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“. Untersuchungen und verwaltungsrechtliche Maßnahmen zu Volkswagen, Ergebnisse der Felduntersuchung des Kraftfahrt-Bundesamtes zu unzulässigen Abschalteinrichtungen bei Dieselfahrzeugen und Schlussfolgerungen, Stand: April 2016, S. 123).
Schließlich zeigt auch der in der Literatur (vgl. Führ, NVwZ 2017, 265) betriebene erhebliche Begründungsaufwand, um das „Thermofenster“ als unzulässige Abschalteinrichtung einzustufen, dass keine klare und eindeutige Rechtslage gegeben ist, gegen die die Beklagte bewusst verstoßen hätte (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 04.07.2019 – 3 U 148/18, juris Rn. 6; OLG Stuttgart, Urt. v. 30.07.2019 – 10 U 134/19, MDR 2019, 1248).
Eine Auslegung, wonach ein „Thermofenster“ eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, ist daher jedenfalls nicht unvertretbar. Ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes kann aber nicht als besonders verwerfliches Verhalten angesehen werden (vgl. OLG Stuttgart, Urt. v. 30.07.2019 – 10 U 134/19, MDR 2019, 1248 f.).
Hinzu kommt, dass der Streit um die Zulässigkeit und Größe eines „Thermofensters“ einen Expertenstreit darstellt (vgl. dazu z. B. Führ, NVwZ 2017, 265), bei dem nicht nur Rechtsfragen, sondern auch technische Details eine Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund würde der Umstand, dass das im Fahrzeug des Klägers verbaute „Thermofenster“ möglicherweise in seiner technischen Ausgestaltung als unzulässig anzusehen sein könnte, nicht dazu führen, dass von einem Sittenverstoß auszugehen wäre.
Unter Berücksichtigung der dargelegten, aus den Gesamtumständen erkennbaren Bewusstseinslage der Beklagten fehlt es daher mangels feststellbaren sittenwidrigen Handelns bereits in subjektiver Hinsicht an der Tatbestandsmäßigkeit i. S. des § 826 BGB.
2. Eine Haftung der Beklagten aus § 823 II BGB i. V. mit § 263 StGB ist ebenfalls nicht gegeben. So fehlt es zumindest am Vorsatz. Wie oben bereits mehrfach ausgeführt, stellt die Annahme der Beklagten, dass es sich bei dem in dem streitgegenständlichen Fahrzeug verbauten „Thermofenster“ nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt, jedenfalls zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs eine zulässige Auslegung des Gesetzes dar, sodass die Verantwortlichen nicht mit dem Vorsatz handelten, den Kläger über eine Eigenschaft des Fahrzeugs zu täuschen und ihm dadurch einen Vermögensschaden zuzufügen.
3. Aus § 823 II BGB i. V. mit §§ 6 I, 27 I EG-FGV lässt sich der geltend gemachte Schadensersatzanspruch ebenfalls nicht herleiten. Bei den §§ 6 I, 27 I EG-FGV handelt es sich entgegen der Ansicht des Klägers nicht um Schutzgesetze, weil sie den Schutz individueller Interessen nicht berücksichtigen. Dass der Individualschutz (hier: der Schutz des Vermögens des Erwerbers eines Kraftfahrzeugs) im Aufgabenbereich der genannten Vorschrift liegt oder aber aus deren Auslegung unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Richtlinie 2007/46/EG folgt, ist nicht ersichtlich (vgl. OLG München, Beschl. v. 29.08.2019 – 8 U 1449/19, juris Rn. 76 ff.).
a) Schutzgesetz i. S. von § 823 II BGB ist jede Rechtsnorm, die zumindest auch dazu dienen soll, einen einzelnen oder einen bestimmten Personenkreis gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsinteresses zu schützen (vgl. BGH, Urt. v. 27.11.1963 – V ZR 201/61, BGHZ 40, 306 = juris Rn. 1; Urt. v. 19.07.2004 – II ZR 218/2003, BGHZ 160, 134, 139 = juris Rn. 21; Urt. v. 10.02.2011 – I ZR 136/2009, BGHZ 188, 326 = juris Rn. 18; Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/2010, BGHZ 192, 90 = juris Rn. 21). Der Schutz eines Einzelnen ist dabei nicht bereits dann bezweckt, wenn er als Reflex einer Befolgung der Norm objektiv erreicht wird, sondern nur dann, wenn der Gesetzgeber dem Einzelnen selbst die Rechtsmacht in die Hand geben wollte, mit Mitteln des Privatrechts gegen denjenigen vorzugehen, der das Verbot übertritt und sein Rechtsinteresse beeinträchtigt (vgl. BGH, Urt. v. 27.11.1963 – V ZR 201/61, BGHZ 40, 306, 307 = juris Rn. 2; Urt. v. 19.07.2004 – II ZR 218/2003, BGHZ 160, 134, 139 f. = juris Rn. 21; Urt. v. 10.02.2011 – I ZR 136/2009, BGHZ 188, 326 = juris Rn. 18; Urt. v. 13.12.2011 – XI ZR 51/2010, BGHZ 192, 90 = juris Rn. 21).
b) Ausgehend von diesen Maßstäben kann entgegen der Auffassung des Klägers nicht davon ausgegangen werden, dass den §§ 6 I, 27 I EG-FGV eine individualschützende Wirkung im Sinne der vorstehend genannten Kriterien innewohnt.
(1) Neben den der Umsetzung der Richtlinie 2007/46/EG dienenden Vorschriften der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung kann die Richtlinie nicht unmittelbar als Schutzgesetz herangezogen werden. Zwar kommt als Schutzgesetz auch in den Mitgliedsstaaten unmittelbar geltendes Recht der Europäischen Union in Betracht (BGH, Urt. v. 10.02.2011 – I ZR 136/09, BGHZ 188, 326 = juris Rn. 17). Dies gilt jedoch nicht für die hier vorliegende Richtlinie. Nach Art. 288 III AEUV unterscheidet sich eine Richtlinie von einer Verordnung nämlich dadurch, dass sie nicht unmittelbar in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gilt, sondern der Umsetzung in nationales Recht bedarf.
(2) Soweit demgegenüber die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 über die Zulassung von Fahrzeugen sowie Abschalteinrichtungen, insbesondere die als verletzte Norm in Betracht kommenden Art. 3 Nr. 10, Art. 5 II (Vorschriften zu einer möglichen illegalen Abschalteinrichtung) sowie Art. 4 (Vorschriften zu den allgemeinen Pflichten des Herstellers bei Beantragung einer Typgenehmigung), als Schutzgesetze in Betracht kommen, weil sie im Sinne der unter II 3 a zitierten Rechtsprechung nach Art. 288 II AEUV unmittelbar geltendes Unionsrecht sind, fehlt den genannten Normen die Schutzgesetzeigenschaft.
Ziel der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ist nach deren einleitenden Bemerkungen (1) bis (4) sowie zusammengefasst nochmals (27) die Harmonisierung und Vollendung des Binnenmarkts durch Einführung gemeinsamer technischer Vorschriften zur Begrenzung von Fahrzeugemissionen. Zwar werden neben der Vereinheitlichung der Rechtsregelung ein hohes Umweltschutzniveau (1) als Ziel und die Reinhaltung der Luft als Vorgabe für Regelungen zur Senkung der Emissionen von Fahrzeugen (4) beschrieben, doch folgt aus den Ausführungen unter (7), die die Verbesserung der Luftqualität in einem Zug mit der Senkung der Gesundheitskosten (und dem Gewinn an Lebensjahren) nennen, dass es auch insoweit nicht um individuelle Interessen, sondern letztlich um umwelt- und gesundheitspolitische Ziele geht. Dass der europäische Gesetzgeber im Sinne der Definition des Schutzgesetzes dem einzelnen Verbraucher die Rechtsmacht in die Hand geben wollte, mit Mitteln des Privatrechts gegen denjenigen vorzugehen, der in dieser Verordnung zur Umsetzung dieser Ziele geregelte Verbote übertritt und sein Rechtsinteresse beeinträchtigt, geht aus den Vorbemerkungen nicht hervor. Vielmehr spricht stattdessen der Umstand, dass die Ziele in (7) in Beziehung gesetzt werden zu den Auswirkungen der Emissionsgrenzwerte auf die Märkte und die Wettbewerbsfähigkeit von Herstellern, gegen einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers. Dies gilt umso mehr, als auch die Regelungen der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 selbst keinen Bezug zu Individualinteressen des einzelnen Bürgers aufweisen (so i. E. auch OLG Braunschweig, Urt. v. 19.02.2019 – 7 U 134/17, juris Rn. 144; Riem, DAR 2016, 12, 13).
(3) Die Vorschriften der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung, die die Richtlinie in nationales Recht umsetzen, berücksichtigen ebenfalls nicht den Schutz individueller Interessen.
(3.1) Maßgebend sind zunächst die Erwägungsgründe (2), (4) und (23) der Richtlinie 2007/46/EG. Aus diesen ergibt sich eindeutig, dass das Ziel der Richtlinie in erster Linie die Vollendung des Europäischen Binnenmarkts ist; darüber hinaus sollte sie die technischen Anforderungen in Rechtsakten harmonisieren und spezifizieren, wobei diese Rechtsakte vor allem auf hohe Verkehrssicherheit, Gesundheits- und Umweltschutz, rationale Energienutzung und wirksamen Schutz gegen unbefugte Nutzung abzielten. Individualinteressen, vor allem das Vermögensinteresse von Kraftfahrzeugerwerbern, finden keine Erwähnung.
Sonstige Erwägungsgründe der Richtlinie, insbesondere (14) und (17), lassen anderweitige Rückschlüsse nicht zu. Diese betreffen, soweit sie über die bereits genannten Erwägungsgründe hinausgehen, ausschließlich weitere allgemeine Güter, nämlich ein hohes Umweltschutzniveau, den Schutz der (allgemeinen) Gesundheit und den Schutz der Verbraucher, ohne dass der Vermögensschutz des Einzelnen darin angesprochen wäre.
(3.2) Etwas anderes folgt nicht aus dem Zweck der Art. 18 I und 26 I der Richtlinie 2007/46/EG selbst, deren Umsetzung die §§ 6 I, 27 I EG-FGV dienen. Soweit nach Art. 26 I der Richtline 2007/46/EG die Mitgliedsstaaten die Zulassung, den Verkauf und die Inbetriebnahme von Fahrzeugen gestatten, wenn sie mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung versehen sind, zielt dies auf die Erleichterung des Binnenmarkts; Anhaltspunkte dafür, dass die Richtlinie auf den Schutz des Vermögens des Autokäufers abstellt, ergeben sich nicht.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Änderung, die die Richtlinie 2007/46/EG durch die Verordnung (EG) Nr. 385/2009 erfahren hat. Danach stellt die Übereinstimmungsbescheinigung „eine Erklärung des Fahrzeugherstellers dar, in der er dem Fahrzeugkäufer versichert, dass das von ihm erworbene Fahrzeug zum Zeitpunkt seiner Herstellung mit den in der Europäischen Union geltenden Rechtsvorschriften übereinstimmte“. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit bereits der in der Ausgangsrichtlinie eindeutig auf allgemeine Rechtsgüter bezogene Schutzzweck auf individuelle Rechtsgüter des Fahrzeugkäufers erstreckt werden sollte.
Dagegen spricht zunächst der Erwägungsgrund (2) der Verordnung (EG) Nr. 385/2009, in dem die Übereinstimmungsbescheinigung als eine „offizielle“ Erklärung bezeichnet wird, denn dies deutet wieder auf den amtlichen, im Rahmen des Zulassungsverfahrens von der Übereinstimmungsbescheinigung zu erfüllenden Zweck hin.
Ein Individualschutz lässt sich ebenfalls nicht aus dem Erwägungsgrund (3) der Verordnung (EG) Nr. 385/2009 herleiten, wonach sicherzustellen ist, dass die Angaben auf der Übereinstimmungsbescheinigung für die beteiligten Verbraucher und Wirtschaftsteilnehmer verständlich sind. Das Verständlichkeitsgebot alleine spricht nämlich nicht dafür, dass nunmehr individuelle Interessen geschützt werden sollen, sondern ist auch dadurch zu erklären, dass es der Käufer ist, der die Übereinstimmungsbescheinigung zum Zwecke der Zulassung bei den zuständigen Behörden vorlegen muss. Schon dazu bedarf es einer verständlichen Fassung (vgl. OLG Braunschweig, Urt. v. 19.02.2019 – 7 U 134/17, juris Rn. 152).
4. Dem Kläger steht kein Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung vorgerichtlicher Anwaltskosten in Höhe von 958,19 € zu. Deliktische Ansprüche scheiden als Anspruchsgrundlage aus. Zur Begründung wird auf obige Ausführungen verwiesen. Mangels Hauptanspruchs ergibt sich ein solcher Anspruch des Klägers ebenfalls nicht unter dem Gesichtspunkt des Verzugs nach §§ 280 I, II, 286 I 1 BGB. …
Hinweis: Die Revision ist beim BGH unter dem Aktenzeichen VI ZR 162/20 anhängig.