- Ein vom VW-Abgasskandal betroffener Neuwagen ist i. S. von § 434 I 2 Nr. 2 BGB mangelhaft, ohne dass es darauf ankommt, ob die in dem Fahrzeug zum Einsatz kommende, seinen Schadstoffausstoß manipulierende Software eine (unzulässige) Abschalteinrichtung i. S. von Art. 5 II i. V. mit Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ist oder ob es sich dabei – pointiert betrachtet – um eine „Zuschalteinrichtung“ handelt.
- Eine angemessene Frist zur Nachbesserung eines vom VW-Abgasskandal betroffenen – mangelhaften – Fahrzeugs beträgt zwei Wochen. Denn der Käufer eines solchen Fahrzeugs muss bei der Fristsetzung nicht berücksichtigen, dass es außer ihm noch zahlreiche andere Käufer gibt, die ebenfalls vom VW-Abgasskandal betroffen sind.
- Eine Nachbesserung durch die Installation eines von der Volkswagen AG entwickelten Softwareupdates ist dem Käufer eines vom VW-Abgasskandal betroffenen Neuwagens auch dann i. S. von § 440 Satz 1 Fall 3 BGB unzumutbar, wenn ihn zwar nicht der Verkäufer, wohl aber die (am Kaufvertrag nicht beteiligte) Volkswagen AG arglistig getäuscht hat. Für eine Unzumutbarkeit genügt es nämlich, wenn derjenige, der vorsätzlich einen Mangel verursacht hat, auch maßgeblich den Ablauf und die Art der Nachbesserung bestimmt. Denn auch in diesem Fall kann der Käufer nicht mehr darauf vertrauen, dass die Nachbesserung ordnungsgemäß erfolgen wird.
- Der Mangel, der einem vom VW-Abgasskandal betroffenen Fahrzeug anhaftet, ist schon deshalb nicht geringfügig i. S. von § 323 V 2 BGB, weil er allenfalls im Anschluss an umfangreiche und zudem mit dem Kraftfahrt-Bundesamt abgestimmte Vorbereitungsmaßnahmen – insbesondere die Entwicklung eines Softwareupdates – beseitigt werden kann.
LG Wuppertal, Urteil vom 20.06.2017 – 6 O 50/16
Sachverhalt: Der Kläger macht gegen die Beklagten Ansprüche im Zusammenhang mit dem VW-Abgasskandal geltend.
Er kaufte bei der Beklagten zu 1, die als Kfz-Händlerin auch VW-, Seat- und ŠKODA-Fahrzeuge vertreibt, im Jahre 2013 einen ŠKODA Superb zum Preis von 32.527,39 €. Dieses Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten zu 2, der Volkswagen AG, hergestellten EA189-Dieselmotor ausgestattet. Gebaut hat den Pkw die ŠKODA AUTO a.s., eine Tochtergesellschaft der Beklagten zu 2.
Den Kaufvertrag über den ŠKODA Superb hat die L-GmbH, die im Internet eine Fahrzeugvermittlungsplattform betreibt, vermittelt; ein persönlicher Kontakt zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 1 ging dem Abschluss des Kaufvertrags nicht voraus.
Der streitgegenständliche Pkw wurde dem Kläger am 23.09.2013 übergeben.
Nachdem bekannt geworden war, dass der VW-Konzern Messungen des Schadstoffausstoßes durch die Verwendung einer speziellen Software manipuliert hatte, erklärte der Kläger mit anwaltlichem Schreiben vom 25.04.2016 gegenüber der Beklagten zu 1 die Anfechtung, hilfsweise den Rücktritt vom Kaufvertrag. Für dessen Rückabwicklung setzte der Kläger der Beklagten zu 1 eine Frist bis zum 06.05.2016, ohne die Beklagte zu 1 zuvor zur Nachbesserung aufgefordert zu haben.
Die Beklagten zu 1 lehnte eine Rückabwicklung des Kaufvertrags mit Schreiben vom 09.05.2016 ab, stellte dem Kläger – ohne die Angabe konkreter Daten – eine zwischen der Beklagten zu 2 und dem Kraftfahrt-Bundesamt abzustimmende „Behebung der Unregelmäßigkeiten“ in Aussicht und bat mit dem Hinweis um Geduld, dass die Beklagte zu 2 mit Hochdruck an Lösungen für alle betroffenen Motorvarianten arbeite.
Mit der Umschreibung „Unregelmäßigkeiten“ nahm die Beklagte zu 1 in ihrem Schreiben Bezug auf folgenden technischen Sachverhalt: Das Fahrzeug des Klägers ist mit einer Software ausgestattet, die die Abgasrückführung steuert und zwischen zwei verschiedenen Betriebsmodi wechseln kann. Im normalen Straßenverkehr läuft das Fahrzeug im „Modus 0“, auf einem Prüfstand, der von der Software identifiziert werden kann, dagegen im „Modus 1“. Der Stickoxidausstoß ist im Betriebsmodus 0 so hoch, dass der einschlägige Euro-5-Emissionsgrenzwert nicht eingehalten wird. Dies gelingt nur im „Modus 1“ auf dem Prüfstand.
Der Kläger sieht darin einen Mangel und behauptet, die Installation eines Softwareupdates sei keine adäquate Nachbesserung, weil zu befürchten sei, dass mit dem Update zahlreiche technische Nachteile (z. B. ein höherer Kraftstoffverbrauch) verbunden seien. Die Beklagte zu 2 – so meint der Kläger – habe ihn arglistig getäuscht, und diese Täuschung müsse sich die Beklagte zu 1 zurechnen lassen.
Die Klage hatte (nur) überwiegend Erfolg, soweit sie sich gegen die Beklagte zu 1 richtete.
Aus den Gründen: A. Bezüglich der Beklagten zu 2 ist die Klage … bereits wegen fehlender Zuständigkeit des LG Wuppertal unzulässig. Das LG Wuppertal ist örtlich für die gegen die Beklagte zu 2 gerichtete Klage nicht zuständig, was die Beklagte zu 2 auch rügt.
Der allgemeine Gerichtstand der Beklagten zu 2 gemäß § 17 ZPO ist nicht Wuppertal, sondern Wolfsburg.
Auch liegt kein besonderer Gerichtstand Wuppertal vor, insbesondere nicht der besondere Gerichtstand der unerlaubten Handlung gemäß § 32 ZPO (vgl. zur Zuständigkeit bei sog. Distanzdelikten Zöller/Vollkommer, ZPO, 31. Aufl., § 32 Rn. 17). Weder ist im Landgerichtsbezirk Wuppertal eine deliktische Handlung begangen worden, noch ist hier ein (Vermögensschaden-)Schaden des Klägers eingetreten. Denn im Gerichtsbezirk Wuppertal ist keine Täuschung verübt worden. Einen persönlichen Kontakt in H., anlässlich dessen der Kläger hätte getäuscht werden können, hat es nicht gegeben. Das Fahrzeug wurde über Vermittlung der L-GmbH, die im Internet tätig ist, an den Kläger verkauft. Auch ist ein etwaiger (Vermögens-)Schaden des Klägers nicht im Landgerichtsbezirk Wuppertal, sondern am Wohnort des Klägers in D. eingetreten.
Auf die örtliche Unzuständigkeit wurde mit Beschluss vom 16.12.2016 hingewiesen. Eine Reaktion des Klägers erfolgte nicht.
B. Gegenüber der Beklagten zu 1 ist die Klage jedoch überwiegend begründet.
I. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich der Nutzungsentschädigung für die gefahrenen Kilometer zu.
1. Zwar konnte der Kläger den Kaufvertrag mit der Beklagten zu 1 mangels eines Anfechtungsgrundes nicht erfolgreich anfechten. Denn die Beklagte zu 1 hat den Kläger nicht im Hinblick auf die eingebaute Manipulationssoftware getäuscht. Die Beklagte zu 1 wusste beim Abschluss des Kaufvertrags nichts von dieser Software. Ein Wissen der Beklagten zu 2 oder deren etwaige auf die Täuschung von Verbrauchern ausgerichtete Handlungen muss sich die Beklagte zu 1 nicht zurechnen lassen. Denn im Hinblick auf § 123 BGB ist die Beklagte zu 2 „Dritter“. Die Beklagte zu 2 war nämlich an den Verhandlungen vor Vertragsschluss in keiner Weise beteiligt, sondern hat lediglich den mangelhaften (dazu unten) Motor gebaut.
2. Der Kläger ist aber wirksam vom Kaufvertrag zurückgetreten, sodass die empfangenen wechselseitigen Leistungen zurückzugewähren sind, dem Kläger also der Kaufpreis abzüglich der Nutzungsentschädigung zu erstatten ist (§§ 433, 434 I 2 Nr. 2, 437 Nr. 2 Fall 1, 440 Satz 1 Fall 3, 346 I und II, 348, 349 BGB).
a) Der Kläger hat den Rücktritt mit anwaltlichem Schreiben erklärt.
b) Dem Kläger steht auch ein Rücktrittsgrund zu.
aa) Denn das Auto war bei der Übergabe mangelhaft i. S. des § 434 I 2 Nr. 2 BGB, denn es hatte nicht die Beschaffenheit, die bei gleicher Art üblich ist und die der Käufer erwarten darf. Der Käufer eines Neufahrzeugs darf nämlich davon ausgehen, dass die gesetzlich vorgegebenen und im technischen Datenblatt aufgenommenen Abgaswerte nicht allein deshalb eingehalten und bescheinigt werden, weil eine Manipulationssoftware eingebaut wurde.
Die Mangelhaftigkeit resultiert daraus, dass der Motor die Vorgaben im Prüfstandlauf nur aufgrund der manipulierenden Software einhält, und nicht etwa daraus, dass die unter Laborbedingungen gemessenen Werte im alltäglichen Gebrauch nicht eingehalten werden (vgl. LG Dortmund, Urt. v. 29.09.2016 – 25 O 49/16).
Ob es sich bei der manipulierenden Software um eine gesetzlich verbotene „Abschaltautomatik“ oder bei pointierter Bewertung – wie hier – um eine „Zuschaltautomatik“ handelt, ist im Hinblick auf die Mangelhaftigkeit des Fahrzeugs nicht entscheidend.
bb) Eine Fristsetzung zur Nacherfüllung war vorliegend aus zwei Gründen entbehrlich (§ 440 Satz 1 Fall 3 BGB).
Zum einen wäre diese eine reine Förmelei gewesen, denn im Frühjahr 2014 war bekannt, dass eine Nachbesserung – ungeachtet der Bemühungen der Beklagten zu 2, für jede Motorvariante eine entsprechende Software zu entwickeln – nicht innerhalb einer angemessenen Frist von zwei Wochen möglich gewesen wäre. Auch die Beklagte zu 1 konnte dem Kläger keinen Zeitpunkt nennen, zu dem die neue Software hätte aufgespielt werden können, sondern vertröstete den Kläger auf unbestimmte Zeit. Diese Geduld musste der Kläger nicht aufbringen. Der einzelne Geschädigte muss nicht deshalb länger auf die Durchsetzung seiner Rechte warten, weil es neben ihm noch zahlreiche in ähnlicher Weise Geschädigte gibt.
Zudem war die Nachbesserung für den Kläger unzumutbar. Dabei kann dahinstehen, ob die angebotene Nachbesserung letztlich eine „Verschlimmbesserung“ gewesen wäre, weil sie automatisch andere Nachteile wie einen höheren Verbrauch oder Verschleiß oder eine geringere Leistung mit sich gebracht hätte.
Denn die Nachbesserung durch ein Softwareupdate war für den Kläger schon aus anderen Gründen unzumutbar. Die Unzumutbarkeit einer Nacherfüllung kann sich nämlich nicht nur aus der Art des Mangels, sondern auch aus den anderen tatsächlichen Umständen ergeben, zum Beispiel dann, wenn die für die Mangelbeseitigung erforderliche Vertrauensgrundlage gelitten hat (vgl. Palandt/Weidenkaff, 76. Aufl., § 440 Rn. 8). Dies kann bei einer vorangegangenen arglistigen Täuschung regelmäßig der Fall sein.
Hier hat zwar die Beklagte zu 1 den Kläger nicht selbst getäuscht, da sie von der Manipulationssoftware nichts wusste. Eine eigene Täuschung durch den Verkäufer ist jedoch für die Frage der Zumutbarkeit der Nachbesserung nicht zwingend erforderlich. Es genügt, wenn derjenige, der den Mangel durch vorsätzliches Handeln verursacht hat, auch derjenige ist, der maßgeblich den Ablauf und die Art der Nachbesserung bestimmt. Denn auch in diesem Fall braucht der Käufer kein Zutrauen mehr in die Ordnungsgemäßheit der angebotenen Nachbesserung zu haben.
Hier ist die Beklagte zu 2 sowohl für die Herbeiführung der vorsätzlichen Manipulation (durch welche Personen im Unternehmen der Beklagten zu 2 auch immer) als auch für die technische Gestaltung der Nachbesserung verantwortlich. Die Beklagten zu 1 oder eine andere Vertragswerkstatt würden die Nachbesserung nicht in eigener Regie, sondern allein nach den Vorgaben der Beklagten zu 2 durchführen.
Für die Frage des Vertrauensverlusts bezüglich der Nachbesserungssteuerung durch die Beklagte zu 2 ist es auch unerheblich, ob ein Organ der Beklagten zu 2 Kenntnis von der Manipulationssoftware hatte. Denn es geht nicht um Kenntnis oder Wissenszurechnung im Hinblick auf eine Täuschung i. S. des § 123 BGB oder des § 826 BGB, sondern allein darum, ob dasselbe Unternehmen mit den bestehenden Entwicklungsstrukturen – wie hier – sowohl für die Manipulationssoftware als auch für die Steuerung und technische Entwicklung der Nachbesserungsmaßnahmen zuständig ist. Begründete Zweifel an einer ordnungsgemäßen Nachbesserung darf ein Geschädigter sowohl haben, wenn die Organe Kenntnis von den Unregelmäßigkeiten hatten, als auch dann, wenn es die Organisationstruktur im Unternehmen erlaubte, dass derartige Unregelmäßigkeiten von den Organen unentdeckt bleiben konnten.
C. Der Rücktritt ist auch nicht gemäß § 323 V 2 BGB ausgeschlossen. Der Mangel ist bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls nicht unerheblich. Zutreffend ist zwar, dass es ein Indiz für die Unerheblichkeit eines Mangels ist, wenn er schnell und mit geringen Kosten beseitigt werden kann. Hier verfängt das Argument, der Aufwand pro Fahrzeug für das Softwareupdate bedürfe zeitlich weniger als eine Stunde und die Kosten lägen unter 100 €, jedoch nicht. Der Aufwand für die Nachbesserungsmaßnahme ist nämlich insgesamt groß. Zu berücksichtigen sind nicht nur die konkreten Arbeitsschritte vor Ort in der Werkstatt, sondern auch die Vorbereitungsmaßnahmen, die erforderlich sind, um ein Softwareupdate überhaupt ermöglichen zu können. Hier führte die Beklagte zu 2 eine (behördlich angeordnete) Rückrufaktion bezüglich aller betroffenen Fahrzeuge durch. Zudem musste die aufzuspielende Software zeitaufwendig erst noch entwickeln werden. Schließlich – und diesem Aspekt kommt besondere Bedeutung zu – waren die erforderlichen Maßnahmen mit dem Kraftfahrt-Bundesamt im Einzelnen abzustimmen. Nachbesserungsmaßnahmen, die einer behördlichen Genehmigung bedürfen, sind nicht unerheblich (wie hier LG Dortmund, Urt. v. 29.09.2016 – 25 O 49/16).
3. Aufgrund des wirksamen Rücktritts sind die empfangenen Leistungen zurückzugewähren. Gemäß § 346 II 1 Nr. 1 BGB ist der Wertersatz für die gezogenen Nutzungen – bisherige Laufleistung – zu berücksichtigen.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme beträgt die Laufleistung zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung 69.474 km. Hier wird die zu erwartende Laufleistung des klägerischen Fahrzeugs (nicht allein des Motors!) auf 300.000 km geschätzt. Zwar mag es sein, dass das Fahrzeug nach 300.000 km nicht unmittelbar zu verschrotten ist. Es werden aber zahlreiche Reparaturen mit Austausch von Ersatzteilen erforderlich werden, sodass das Fahrzeug mit über 300.000 km Laufleistung nicht mehr identisch mit dem gekauften sein wird.
Der Nutzungsersatz errechnet sich wie folgt:
$${\frac{\text{32.527,39 € (Kaufpreis)}\times\text{69.474 km (bisherige Laufleistung)}}{\text{300.000 km (zu erwartende Laufleistung)}}} = \text{7.532,69 €}.$$
C. Die Beklagte zu 1 befindet sich im Verzug der Annahme mit der Rücknahme des Fahrzeugs.
D. Vorgerichtliche Anwaltskosten für das Anfechtungs- und Rücktrittschreiben an die Beklagte zu 1 sind dem Kläger nicht zu erstatten. Der Kläger erklärt sich insoweit nicht dazu, auf welche Anspruchsgrundlage er sein Begehren stützt.
In Verzug befand sich die Beklagte zu 1 am 25.04.2016 jedenfalls nicht, weder mit der Nachbesserung noch mit der Rückabwicklung. Eine vorherige Erstmahnung durch den Kläger selbst ist nicht ersichtlich, insbesondere nicht aus dem anwaltlichen Schreiben vom 25.04.2016.
Der Kläger könnte ohnehin nicht die von ihm verlangten Kosten in Höhe von 2,0 Gebühren für die vorgerichtliche Tätigkeit ersetzt verlangen. Bei dem Mandat gegen die Beklagte zu 1 handelt es sich um eine gewöhnliche Kaufsache ohne besondere Schwierigkeiten in technischer, tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht und ohne einen besonderen Umfang. Umfangreich wurde der Rechtstreit erst im gerichtlichen Verfahren durch die zahlreichen, vielblättrigen und überwiegend nicht auf den Fall des Klägers bezogenen, sondern offensichtlich für eine Vielzahl von Mandaten vorgefertigten Schriftsätze nebst umfassender Anlagen, die oft nicht einmal in deutscher Sprache vorgelegt wurden. …