- Die tatsächlichen Verbrauchswerte eines Neuwagens hängen – was ein verständiger Käufer weiß – von zahlreichen Einflüssen und der individuellen Fahrweise ab und dürfen deshalb nicht mit den Verbrauchsangaben im Herstellerprospekt gleichgesetzt werden. Der Käufer kann aber erwarten, dass die im Prospekt angegebenen Verbrauchswerte unter Testbedingungen reproduzierbar sind.
- Eine Neuwagen weist regelmäßig einen erheblichen, zum Rücktritt berechtigenden Mangel auf, wenn der im Verkaufsprospekt angegebene (kombinierte) Verbrauchswert um mehr als 10 % überschritten wird.
OLG Hamm, Urteil vom 07.02.2013 – I-28 U 94/12
(vorhergehend: LG Bochum, Urteil vom 12.04.2012 – 4 O 250/10)
Sachverhalt: Der Kläger verlangt die Rückabwicklung eines Kaufvertrags über ein Neufahrzeug.
Bevor der Kläger dieses Fahrzeug am 25.08.2009 bei der beklagten Vertragshändlerin zum Preis von 20.260 € bestellte, nahm er Einblick in den Prospekt des Herstellers. Darin war angegeben, dass das Fahrzeug „nach 1999/100 EG“ gerechnet auf 100 Kilometer 5,6 Liter Superkraftstoff verbrauche (innerorts: 10,37 l/100 km; außerorts: 6,2 l/100 km; kombiniert: 7,7 l/100 km). Außerdem fanden sich folgende Hinweise:
„Messverfahren gem. RL 80/1268/EWG in der gegenwärtig geltenden Fassung. Verbrauchswerte ohne Zusatzausstattung. Mit eingeschalteter Klimaanlage erhöht sich der Verbrauch um ca. 0,2 l/100 km.“
Nach der Fahrzeugübergabe am 22.12.2009 beanstandete der Kläger gegenüber der Beklagten zu hohe Verbrauchswerte von durchschnittlich 13 l/100 km. Die Beklagte versuchte anlässlich eines Werkstattaufenthalts am 15.02.2010, die Verbrauchswerte zu optimieren. Der Kläger war jedoch auch in der Folgezeit mit den Verbrauchswerten unzufrieden.
Nachdem die Beklagte erklärt hatte, der Verbrauch entspreche dem Stand der Technik und könne nicht weiter gesenkt werden, ließ der Kläger mit Anwaltsschreiben vom 29.04.2010 den Rücktritt vom Kaufvertrag erklären.
Seiner auf Rückabwicklung des Kaufvertrags gerichteten Klage hat das LG Bochum (Urt. v. 12.04.2012 – 4 O 250/10) nach Einholung eines Sachverständigengutachtens stattgegeben. Es hat ausgeführt, das Fahrzeug des Klägers weise einen Sachmangel auf, weil die im Herstellerprospekt angegebenen Verbrauchsangaben nicht eingehalten würden (§ 434 I 3 BGB). Nach den Feststellungen des Sachverständigen liege der kombinierte Kraftstoffverbrauch mit 8,6 l/100 km um 11,7 % über der Herstellerangabe (7,7 l/100 km) und überschreite damit i. S. des § 323 V 2 BGB die vom BGH angenommene Erheblichkeitsgrenze von 10 %.
Die Berufung der Beklagten hatte nur zu einem geringen Teil Erfolg.
Aus den Gründen: II. … 1. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger von der Beklagten gemäß § 346 I BGB die Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe des [Fahrzeugs] verlangen kann, denn der Kläger war gemäß §§ 433, 434, 437 Nr. 2, 440, 323 BGB zum Rücktritt vom Kaufvertrag berechtigt.
a) Das gesetzliche Rücktrittsrecht ergab sich daraus, dass dem vom Kläger gekauften Fahrzeug i. S. des § 434 I 2 Nr. 2 und Satz 3 BGB eine Beschaffenheit fehlte, die er nach dem Verkaufsprospekt des Herstellers erwarten durfte.
Aus dem Verkaufsprospekt ergab sich, dass ein [Fahrzeug des vom Kläger erworbenen Typs] ohne Zusatzaustattung nach dem Messverfahren gemäß RL 80/1268/EWG folgenden Kraftstoffverbrauch haben soll: innerorts: 10,3 l/100 km; außerorts: 6,2 l/100 km; kombiniert: 7,7 l/100 km.
Daraus folgt zwar keine Sollbeschaffenheit in dem Sinne, dass diese Verbrauchswerte im Alltagsgebrauch des konkret erworbenen Fahrzeugs erreicht werden müssten. Denn ein verständiger Käufer weiß, dass die tatsächlichen Verbrauchswerte von zahlreichen Einflüssen und der individuellen Fahrweise des Nutzers abhängen und deshalb nicht mit den Prospektangaben gleichgesetzt werden dürfen, die auf einem standardisierten Messverfahren beruhen (Senat, Urt. v. 09.06.2011 – 28 U 12/11; Reinking/Eggert, Der Autokauf, 11. Aufl. [2012], Rn. 607). Der Käufer kann aber erwarten, dass die im Prospekt angegebenen Werte unter Testbedingungen reproduzierbar sind. Das ist bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht der Fall.
Der zum Sachverständigen bestellte Dipl.-Ing. U … ist beruflich regelmäßig mit der Durchführung von Verbrauchstests – auch für Fahrzeughersteller – befasst. Er hat seine für das Landgericht erstellten schriftlichen Stellungnahmen vor dem Senat erläutert. Daraus ergab sich Folgendes:
Der Sachverständige gab an, [das Fahrzeug] des Klägers auf einem Prüfstand so getestet zu haben, wie dies im Typengenehmigungsverfahren nach der EG-Richtlinie 80/1268 geschehe. Auch für das Typengenehmigungsverfahren würde man keine fabrikneuen Fahrzeuge verwenden, sondern solche mit einer Laufleistung von 3.000 km bis 15.000 km. Diesen Vorgaben habe das Klägerfahrzeug mit einer Laufleistung von seinerzeit 15.000 km entsprochen. Sodann sei der Fahrwiderstand ermittelt worden, indem man bei 125 km/h in den Leerlauf geschaltet und das Fahrzeug habe ausrollen lassen. Dabei habe sich ergeben, dass das Klägerfahrzeug einen deutlich höheren Fahrwiderstand gehabt habe als das vom Hersteller anlässlich der Homologation getestete. Während üblicherweise bei nachträglich getesteten Fahrzeugen deren Fahrwiderstände zu 80–90 % den Werten im Typengenehmigungsverfahren entsprächen, sei bei dem Klägerfahrzeug eine deutliche und ungewöhnliche Diskrepanz festzustellen. Die gemessenen Werte lägen bei 33 N statt bei der Herstellerangabe von − 47 N.
Ausgehend von diesen festgestellten Fahrwiderstands-, das heißt Lastwerten habe man – so der Sachverständige – dann noch abweichend vom tatsächlichen Fahrzeuggewicht von 1.590 kg eine niedrigere Schwungmassenklasse von 1.470 kg simuliert, obgleich man nach der anzuwendenden Richtlinie das Referenzgewicht eigentlich sogar aus der schwersten Fahrzeugvariante hätte nehmen müssen. Pro Gewichtsklasse ergebe sich aus seiner Erfahrung ein Minderverbrauch von 0,1–0,2 l/100 km, wobei er hier den höheren Wert von 0,2 l/100km zugrunde gelegt habe. Daraus ergäben sich entsprechend der Berechnungsvariante 2 die Verbrauchswerte von 11,5 l/100 km, 7,0 l/100 km, 8,6 l/100 km.
Aus dem Umstand, dass bei der Testfahrt der Tank fast leer gewesen sei, während die Richtlinie einen vollen Tank verlange, ergebe sich ausweislich einer vor dem Senatstermin durchgeführten Nachberechnung keine signifikante Abweichung. Sofern man auch noch einen neuen Wartungszustand, das heißt einen Zustand innerhalb des vom Hersteller vorgegebenen Wartungsintervalls, und die Verwendung von Referenzkraftstoff berücksichtige, ergebe sich ein Minderverbrauch von 0,1 l/100 km. Dabei sei insbesondere zu bedenken, dass der zu Testzwecken verwendete Referenzkraftstoff nicht etwa einen höheren Brennwert aufweise als entsprechender Markenkraftstoff. Die chemischen Inhaltsstoffe seien vielmehr entsprechend den gesetzlichen Vorgaben die gleichen. Nur sei der Referenzkraftstoff unter Laborbedingungen hergestellt, während sich bei Markenkraftstoffen durch die industrielle Fertigung innerhalb der Toleranzen ein größere Streuweite ergebe.
Legt man – insoweit zugunsten der Beklagten – diese ergänzenden Feststellungen des Sachverständigen zum Einfluss des Wartungszustands und des Referenzkraftstoffs zugrunde, so rechtfertigt dies einen weiteren Abzug von 0,1 l/100 km von den vorgenannten Werten. Damit ist im Streitfall von folgenden Verbrauchswerten bzw. prozentualen Überschreitungen der Prospektangaben auszugehen:
innerorts | 11,4 l/100 km | statt | 10,3 l/100 km | + 10,68 % |
außerorts | 6,9 l/100 km | statt | 6,2 l/100 km | + 11,29 % |
kombiniert | 8,5 l/100 km | statt | 7,7 l/100 km | + 10,39 % |
Der Senat sieht keinen Anlass, an den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. U zu zweifeln, denn er verfügt bei Verbrauchsmessungen an Kraftfahrzeugen über einen großen Sachverstand. Seine Feststellungen waren sorgsam erarbeitet; sie wurden nachvollziehbar erläutert.
Der Senat kann danach insbesondere ausschließen, dass die Diskrepanz zwischen den schlechten Fahrwiderstandswerten am Klägerfahrzeug und den besseren Widerstandswerten an dem vom Hersteller verwendeten Homologationsfahrzeug eine Ursache hat, die dem Kläger zuzurechnen wäre. An dem streitgegenständlichen Fahrzeug sind unstreitig die ab Werk ausgelieferten Reifen montiert. Das mit der Zusatzausstattung zusammenhängende höhere Gewicht des Klägerfahrzeugs wurde durch Simulation des Sachverständigen neutralisiert. Und die technische Abnutzung am Klägerfahrzeug im Vergleich zur Neuauslieferung hätte auch am Homologationsfahrzeug vorhanden sein müssen, wobei der Sachverständige ergänzend ausführte, dass mit zunehmender Fahrzeugnutzung ohnehin nicht zwingend eine Verschlechterung der Verbrauchswerte verbunden sei.
Der Auffassung der Beklagten, man dürfe nicht von den am Klägerfahrzeug gemessenen (schlechten) Fahrwiderstandswerten ausgehen, sondern müsse diejenigen des Homologationsfahrzeugs zugrunde legen, folgt der Senat nicht. Ein solcher Berechnungsansatz würde – wie auch der Sachverständige ausführte – zu einem rein theoretischen Ergebnis führen, als ob man lediglich den Verbrauch des Fahrzeugmotors isoliert betrachtet. Der Kläger hat aber nicht nur einen Motor gekauft, sondern ein komplettes Fahrzeug, sodass auch dessen Fahrwiderstand zu berücksichtigen ist. Das ist auch deshalb interessengerecht, weil es ansonsten der Fahrzeughersteller in der Hand hätte, durch optimale Ausgestaltung des Homologationsverfahrens – zum Beispiel durch die Verwendung rolloptimierter Reifen – Verbrauchswerte zu erzielen, die mit den verkauften Fahrzeugen gleichen Typs nicht rekonstruierbar wären.
b) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die Auslieferung des Klägerfahrzeugs mit den erhöhten Verbrauchswerten auch als erhebliche Pflichtverletzung i. S. des § 323 V 2 BGB anzusehen, die den Kläger zum Rücktritt berechtigt.
Eine erhebliche Pflichtverletzung ist regelmäßig dann anzunehmen, wenn der im Verkaufsprospekt angegebene (kombinierte) Verbrauchswert um mehr als 10 % überschritten wird (BGH, Beschl. v. 08.05.2007 – VIII ZR 19/05, NJW 2007, 2111; Senat, Urt. v. 09.06.2011 – 28 U 12/11), was hier bei einem Mehrverbrauch von 10,35 % der Fall ist. Auch wenn hier nur eine sehr geringfügige Überschreitung der Erheblichkeitsschwelle vorliegt, rechtfertigt das bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung keinen Ausschluss des Rücktrittsrechts. Dabei war zu sehen, dass die Berechnung des Sachverständigen ohnehin für die Beklagte eher günstig ausfiel, denn bei der Simulation der geringeren Schwungmassenklasse wäre auch ein Abzug von lediglich 0,1 l/100 km statt 0,2 l/100 km vertretbar gewesen.
2. Hinsichtlich des von der Beklagten zurückzuzahlenden Kaufpreises von 20.260 € ist gemäߧ 346 I, II BGB ein Abzug vorzunehmen, indem der Kläger eine Entschädigung für die bisherige Fahrzeugnutzung zu leisten hat.
Der erstmals in der Berufungsinstanz erhobene Aufrechnungseinwand war zulässig …
Die Höhe der Nutzungsentschädigung bemisst sich nach dem linearen Wertschwund, der im Streitfall durch die Formel
$$\frac{20.260,00\ \text {€}\times30.200\ \text {km}}{200.000\ \text {km}-0\ \text {km}}$$
zu kalkulieren ist und damit einen Abzug von 3.059,26 € ausmacht. Die mutmaßliche Gesamtlaufleistung von 200.000 km wurde vom Senat aufgrund der Erfahrungen in zahlreichen Parallelverfahren geschätzt (§ 287 ZPO) …