- Die Unterbrechung des Verfahrens gemäß § 240 ZPO nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der beklagten Partei steht einem Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 I Nr. 6 ZPO nicht entgegen (Bestätigung von BGH, Beschl. v. 26.07.2022 – X ARZ 3/22, NJW 2022, 2936 Rn. 36).
- Dem Gericht, bei dem der Rechtsstreit in der Hauptsache anhängig ist, ist es gemäß § 249 ZPO während einer Unterbrechung des Verfahrens verwehrt, sich für unzuständig zu erklären und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht zu verweisen.
- Eine entgegen § 249 ZPO ergangene Entscheidung zur Zuständigkeit kann aber als rechtskräftige Entscheidung i. S. von § 36 I Nr. 6 ZPO anzusehen sein.
BGH, Beschluss vom 19.03.2024 – X ARZ 119/23
Sachverhalt: Der Kläger schloss nach seinem Vortrag mit dem früheren Beklagten (nachfolgend: Schuldner) einen Vertrag über die Lieferung und Errichtung eines Zauns nebst Tor auf seinem Wohngrundstück in Winsen. In der zugrunde liegenden Auftragsbestätigung ist für den Schuldner eine Adresse im Bezirk des AG Hamburg-St. Georg angegeben.
Der Kläger trägt vor, er habe den Vertrag mit dem Schuldner nach Fristsetzung gekündigt, nachdem der Schuldner Teile des Materials nicht geliefert und den Zaun nicht errichtet habe.
Mit seiner an das AG Hamburg-St. Georg gerichteten Klage begehrt der Kläger die Abholung bereits gelieferter Baumaterialien und die Rückzahlung geleisteter Anzahlungen. Die Klageschrift konnte weder in Hamburg noch an weiteren, in der Folge durch den Kläger benannten Anschriften in Neustadt in Holstein und in Bremen zugestellt werden. Nachdem der Kläger eine Anschrift des Schuldners in Buxtehude mitgeteilt und um Abgabe an das dortige Amtsgericht gebeten hatte, hat sich das Amtsgericht Hamburg-St. Georg mit Beschluss vom 10.06.2022 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit gemäß § 281 ZPO an das AG Buxtehude verwiesen.
Dieses hat die Akte mit Verfügung vom 21.06.2022 unter Ablehnung der Übernahme an das AG Hamburg-St. Georg zurückgesandt. Das AG Hamburg-St. Georg hat daraufhin mit Beschluss vom 04.07.2022 seinen Verweisungsbeschluss aufgehoben, die Klageschrift an den Schuldner zugestellt und Gelegenheit zur Stellungnahme zu dem Verweisungsantrag des Klägers eingeräumt.
Mit Beschluss vom 19.09.2022 hat sich das Amtsgericht Hamburg-St. Georg erneut für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das AG Buxtehude verwiesen.
Das AG Buxtehude teilte den Parteien in einer Verfügung vom 11.10.2022 mit, dass es die Verweisung für willkürlich und nicht verbindlich erachte. Mit Beschluss vom 23.12.2022 hat es die Akten dem OLG Hamburg zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.
Mit Schreiben vom 06.01.2023 teilte der Insolvenzverwalter mit, dass über das Vermögen des Schuldners am 15.12.2022 das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist.
Das OLG Hamburg hat das Verfahren dem BGH vorgelegt. Dieser hat als zuständiges Gericht das AG Buxtehude bestimmt.
Aus den Gründen: [10] II. Die Vorlage ist zulässig.
[11] Nach § 36 III 1 ZPO hat ein Oberlandesgericht, wenn es im Rahmen eines Gerichtsstandsbestimmungsverfahrens nach § 36 II ZPO in einer Rechtsfrage von einer Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des BGH abweichen will, die Sache dem BGH vorzulegen.
[12] Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben.
[12] 1. Die Vorlage betrifft eine Zuständigkeitsbestimmung, die in den Anwendungsbereich von § 36 I ZPO fällt.
[14] Die beiden mit der Sache befassten Amtsgerichte haben sich durch Beschluss für unzuständig erklärt. Das AG Buxtehude hat das vorlegende Gericht unter Berufung auf § 36 I Nr. 6 ZPO um die Bestimmung des zuständigen Gerichts ersucht.
[15] 2. Da die Amtsgerichte zu unterschiedlichen Oberlandesgerichtsbezirken gehören, ist der BGH das nächsthöhere gemeinschaftliche Gericht und das vorlegende Gericht nach § 36 II ZPO zur Entscheidung berufen.
[16] Eine Divergenz i. S. von § 36 III ZPO liegt vor.
[17] Das vorlegende Gericht sieht trotz der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Voraussetzungen einer Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 I Nr. 6 ZPO als gegeben an, da es davon ausgeht, dass ein Gericht, an das ein Rechtsstreit gemäß § 281 ZPO verwiesen worden ist, sich auch nach einer Unterbrechung wegen Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der beklagten Partei noch für unzuständig erklären darf, um ein Verfahren nach § 36 I Nr. 6 ZPO einzuleiten. Damit weicht es von einer Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts ab (BayObLG, Beschl. v. 15.09.2020 – 1 AR 86/20, ZRI 2020, 621), das davon ausgeht, dass eine Unterbrechung des Rechtsstreits auch einer Entscheidung des Gerichts über seine Zuständigkeit entgegensteht.
[18] 4. Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die zur Vorlage führende Rechtsfrage eine der Voraussetzungen betrifft, unter denen eine Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 I Nr. 6 ZPO überhaupt zulässig ist.
[19] Die Voraussetzungen des § 36 I ZPO sind als rechtliche Vorfragen derart eng mit den für die Zuständigkeitsbestimmungen maßgeblichen Erwägungen verknüpft, dass Divergenzen bei solchen Rechtsfragen ebenfalls das Vorlageverfahren nach § 36 III ZPO eröffnen (BGH, Beschl. v. 06.06.2018 – X ARZ 303/18, NJW 2018, 2200 Rn. 8 [zu § 36 I Nr. 3 ZPO]).
[20] III. Zu Recht hat das vorlegende Gericht angenommen, dass die Voraussetzungen für eine Bestimmung des zuständigen Gerichts nach § 36 I Nr. 6 ZPO im Streitfall gegeben sind.
[21] 1. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats hindert eine Unterbrechung des Rechtsstreits durch Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der beklagten Partei eine Gerichtsstandsbestimmung gemäß § 36 I Nr. 3 ZPO nicht. Eine solche Entscheidung betrifft nicht die Hauptsache selbst, sondern nur die Zuständigkeit und hat daher nur vorbereitenden Charakter (BGH, Beschl. v. 07.01.2014 – X ARZ 578/13, NJW-RR 2014, 248 Rn. 7).
[22] Aus demselben Grund steht eine Unterbrechung des Rechtsstreits auch einer Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 I Nr. 6 ZPO nicht entgegen (BGH, Beschl. v. 26.07.2022 – X ARZ 3/22, NJW 2022, 2936 Rn. 36; ebenso BAG, Beschl. v. 21.12.2015 – 10 AS 9/15, NZA 2016, 466 Rn. 16). Dies zieht auch das Bayerische Oberste Landesgericht nicht in Zweifel (BayObLG, Beschl. v. 15.09.2020 – 1 AR 86/20, ZRI 2020, 621 = juris Rn. 9).
[23] 2. Entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts ist es dem Gericht, bei dem der Rechtsstreit in der Hauptsache anhängig ist, gemäß § 249 ZPO während einer Unterbrechung des Verfahrens verwehrt, sich für unzuständig zu erklären und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht zu verweisen.
[24] Während der Unterbrechung oder Aussetzung eines Rechtsstreits sind nach § 249 II ZPO die von einer Partei in Ansehung der Hauptsache vorgenommenen Prozesshandlungen der anderen Partei gegenüber ohne rechtliche Wirkung. Dieser Regelung ist zu entnehmen, dass auch Handlungen des Gerichts, die nach außen vorgenommen werden, grundsätzlich unwirksam sind (vgl. nur BGH, Beschl. v. 11.01.2023 – XII ZB 538/21, NJW-RR 2023, 630 Rn. 11).
[25] Dieses Verbot gilt allerdings nicht für Nebenentscheidungen wie etwa die Kostenentscheidung (BGH, Beschl. v. 02.02.2005 – XII ZR 233/02, juris) oder die Entscheidung über ein Prozesskostenhilfegesuch (BGH, Beschl. v. 23.03.1966 – Ib ZR 103/64, NJW 1966, 1126). Ausgenommen sind auch – wie bereits erwähnt – vorbereitende Entscheidungen in einem gesonderten Verfahren nach § 36 I ZPO.
[26] Ein solcher Ausnahmetatbestand liegt aber nicht vor, wenn das Gericht, bei dem die Hauptsache anhängig ist, sich für unzuständig erklärt. Eine solche Entscheidung hat nicht nur vorbereitenden Charakter. Sie führt vielmehr dazu, dass die Anhängigkeit der Sache bei dem entscheidenden Gericht insgesamt endet. Eine solche Entscheidung ist mit der Zielsetzung von § 249 ZPO nicht vereinbar.
[27] 3. Wie das vorlegende Gericht im Ergebnis zu Recht angenommen hat, kann eine entgegen § 249 ZPO ergangene Entscheidung zur Zuständigkeit aber als rechtskräftige Entscheidung i. S. von § 36 I Nr. 6 ZPO anzusehen sein.
[28] Gerichtliche Entscheidungen, die trotz Unterbrechung oder Aussetzung ergehen, sind nicht nichtig. Sie können lediglich mit den gegebenen Rechtsmitteln angefochten werden (BGH, Beschl. v. 11.01.2023 – XII ZB 538/21, NJW-RR 2023, 630 Rn. 11; Beschl. v. 17.12.2008 – XII ZB 125/06, MDR 2009, 1000 = juris Rn. 14; Beschl. v. 31.03.2004 – XII ZR 167/00, MDR 2004, 1077 = juris Rn. 4).
[29] Für einen Verweisungsbeschluss, der grundsätzlich nicht der Anfechtung unterliegt, ergibt sich daraus, dass er zu einer Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 I Nr. 6 ZPO führen kann, weil dies die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit ist, einander widersprechende Entscheidungen über die Zuständigkeit zu überprüfen. Dies entspricht auch der Zwecksetzung dieses Verfahrens, Zuständigkeitskonflikte auf möglichst schnelle und zweckmäßige Weise zu lösen.
[30] 4. Im Streitfall sind die Voraussetzungen des § 36 I Nr. 6 ZPO damit erfüllt, weil beide beteiligten Gerichte sich durch Beschluss für unzuständig erklärt haben. Dass das AG Buxtehude einen solchen Beschluss wegen § 249 ZPO nicht erlassen durfte, steht dem aus den oben genannten Gründen nicht entgegen.
[31] IV. Zuständiges Gericht ist das AG Buxtehude.
[32] Dies folgt aus der Bindungswirkung des nach Eintritt der Rechtshängigkeit und vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergangenen Verweisungsbeschlusses des AG Hamburg-St. Georg vom 19.09.2022 (§ 281 II 4 ZPO).
[33] 1. Verweisungsbeschlüsse nach § 281 II 2 ZPO sind unanfechtbar und gemäß § 281 II 4 ZPO für das Gericht, an das verwiesen wird, bindend. Dies entzieht auch einen sachlich zu Unrecht erlassenen Verweisungsbeschluss grundsätzlich jeder Nachprüfung (vgl. nur BGH, Beschl. v. 27.05.2008 – X ARZ 45/08, NJW-RR 2008, 1309 Rn. 6).
[34] Einem Verweisungsbeschluss kann daher die gesetzlich vorgesehene bindende Wirkung nur dann abgesprochen werden, wenn er schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss (BGH, Beschl. v. 13.12.2005 – X ARZ 223/05, NJW 2006, 847 Rn. 12; Beschl. v. 27.05.2008 – X ARZ 45/08, NJW-RR 2008, 1309 Rn. 6). Hierfür genügt es aber nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder fehlerhaft ist. Willkür liegt nur vor, wenn dem Verweisungsbeschluss jede rechtliche Grundlage fehlt und er bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BGH, Beschl. v. 10.06.2003 – X ARZ 92/03, NJW 2003, 3201; Beschl. v. 27.05.2008 – X ARZ 45/08, NJW-RR 2008, 1309 Rn. 6).
[35] 2. Gemessen daran ist der Verweisungsbeschluss des AG Hamburg-St. Georg vom 19.09.2022 nicht willkürlich.
[36] a) Anhaltspunkte für eine Verletzung von Verfahrensgrundrechten liegen nicht vor.
[37] Insbesondere wurde den Parteien vor der (erneuten) Verweisung rechtliches Gehör gewährt.
[38] b) Der Verweisungsbeschluss entbehrt auch nicht jeder gesetzlichen Grundlage, sodass er als offensichtlich unhaltbar betrachtet werden müsste.
[39] Wie das vorlegende Gericht zutreffend ausführt, ist eine Zuständigkeit des AG Hamburg-St. Georg gemäß § 29 ZPO entgegen der Auffassung des AG Buxtehude nicht ersichtlich, weil der Erfüllungsort des Vertrags nicht im Bezirk des zuerst genannten Gerichts liegt.