- Mit der Rechtsprechung des BGH, wonach in der Regel schon grob fahrlässig i. S. von § 932 II BGB handelt, wer sich beim Erwerb eines Gebrauchtwagens nicht die Zulassungsbescheinigung Teil II (Fahrzeugbrief) vorlegen lässt, um die Berechtigung des Veräußerers zu prüfen, sind nur die Mindestanforderungen für einen gutgläubigen Erwerb bestimmt. Deshalb kann der Erwerber auch dann bösgläubig sein, wenn der Veräußerer im Besitz des Fahrzeugs und der Zulassungsbescheinigung Teil II ist, nämlich wenn besondere Umstände den Verdacht des Erwerbers erregen mussten und er diese unbeachtet lässt (im Anschluss u. a. an BGH, Urt. v. 23.05.1966 – VIII ZR 60/64, WM 1966, 678 = juris Rn. 10 m. w. Nachw.).
- Verdachtsmomente, die Zweifel an der Berechtigung des Veräußerers wecken und den Erwerber zu sachdienlichen Nachforschungen veranlassen müssen, können insbesondere ein auffallend niedriger Kaufpreis, die Übergabe des Fahrzeugs im Ausland und der Umstand sein, dass der Veräußerer dem Erwerber nur einen einzigen Fahrzeugschlüssel übergeben kann.
LG Hamburg, Urteil vom 19.09.2019 – 326 O 156/18
(nachfolgend: OLG Hamburg, Urteil vom 15.01.2021 – 8 U 129/19)
Sachverhalt: Der Kläger verlangt von der Beklagten, einer Autovermieterin, die Herausgabe eines Kraftfahrzeugs. Dieses Fahrzeug – ein Mercedes-Benz V 250 BlueTEC 4MATIC – stand ursprünglich im Eigentum der Beklagten. Es war am 04.07.2018 von S und H angemietet und einige Tage später von diesen als gestohlen gemeldet worden.
Der Kläger, der auf der Suche nach einem neuen Fahrzeug war, fand am 05.07.2018 ein „mobile.de“-Inserat, in dem der Kleintransporter für 43.750 € zum Kauf angeboten wurde. In einem anschließenden Telefonat mit dem Anbieter L teilte dieser dem Kläger mit, dass er sich beruflich in den Niederlanden befinde, und bot dem Kläger an, das Fahrzeug dort zu besichtigen. Der Kläger und sein Schwiegervater trafen sich deshalb schließlich am Vormittag des 07.07.2018 mit L auf einem Parkplatz in den Niederlanden. Da das streitgegenständliche Fahrzeug in einem sehr guten Zustand war und bei einer Probefahrt keine Mängel zutage traten, entschloss sich der Kläger, den Kleintransporter zu kaufen. Er erhielt von L eine Zulassungsbescheinigung Teil I (Fahrzeugschein) und Teil II (Fahrzeugbrief). Dabei handelt es sich um Fälschungen, die unter Verwendung von echten Blankoformularen hergestellt wurden. Außerdem übergab L dem Kläger einen Fahrzeugschlüssel und teilte dem Kläger mit, dass sich der zweite Schlüssel noch bei seiner Frau in Deutschland befinde. Der Kläger könne den Schlüssel dort auf der Heimfahrt abholen; die Anschrift werde er – L – dem Kläger auf dessen Mobiltelefon senden. Mit Blick auf den zu fahrenden Umweg gewährte L dem Kläger einen Preisnachlass von 500 &euro, sodass der Kläger schließlich 43.250 € in bar an L zahlte.
Anschließend meldete L sich nicht mehr beim Kläger und war auch nicht mehr zu erreichen. Der Kläger wandte sich deshalb an die Polizei, die das streitgegenständliche Fahrzeug sicherstellte und es schließlich gemäß einem Beschluss der Staatsanwaltschaft an die Beklagte herausgab.
Der Kläger meint, er habe das Eigentum an dem Mercedes-Benz V 250 BlueTEC 4MATIC gutgläubig erworben, und nimmt die Beklagte deshalb auf Herausgabe des Fahrzeugs in Anspruch. Er macht geltend, weder ihm noch seinem Schwiegervater hätte sich der Verdacht aufgedrängt, dass mit L etwas nicht stimmen könnte. L habe sich bis zur Übergabe des Fahrzeugs in den Niederlanden als zuverlässig erwiesen und dafür, dass die Fahrzeugübergabe in den Niederlanden stattfinden müsse, einen nachvollziehbaren Grund angegeben. Auf seine – des Klägers – Frage, warum der Kaufpreis so niedrig sei, habe L plausibel erklärt, er benötige dringend Geld für die Renovierung einer Immobilie. Schließlich habe er, der Kläger, die in den Fahrzeugpapieren angegebene Fahrzeug-Identifizierungsnummer mit der am Fahrzeug angebrachten Nummer verglichen und nichts Auffälliges festgestellt.
Die Beklagte stellt einen gutgläubigen Eigentumserwerb des Klägers in Abrede. Sie macht geltend, der Kläger habe mindestens grob fahrlässig verkannt, dass L nicht Eigentümer des Fahrzeugs gewesen sei. Bezüglich der Eigentümerstellung des L hätte der Kläger schon deshalb weitere Nachforschungen anstellen müssen, weil L ihm nur einen Fahrzeugschlüssels übergeben habe. Es habe aber auch weitere Auffälligkeiten (offensichtlich gefälschte Zulassungsbescheinigung Teil I, deutlich zu günstiger Kaufpreis für das fast neue Fahrzeug, das im September 2018 einen Marktwert von 66.025 € gehabt habe, Unstimmigkeiten beim Wohnort des Verkäufers, keine Übergabe von Garantieunterlagen, einjähriges TÜV-Intervall) gegeben, die den Kläger hätten veranlassen müssen, wenigstens bezüglich der Identität des L nachzuforschen.
Die Klage hatte keinen Erfolg.
Aus den Gründen: Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Herausgabe des Fahrzeugs nicht zu.
Nach § 985 BGB kann der Eigentümer von dem Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen. Der Kläger ist indessen nicht Eigentümer des streitgegenständlichen Mercedes-Benz Vito geworden. Er hat ihn nicht gutgläubig vom Nichtberechtigten L erworben. Gemäß § 932 I BGB wird der Erwerber durch eine nach § 929 erfolgte Veräußerung auch dann Eigentümer, wenn die Sache nicht dem Veräußerer gehört, es sei denn, dass er zur Zeit des Erwerbs nicht in gutem Glauben ist. Nach § 932 II BGB ist der Erwerber nicht in gutem Glauben, wenn ihm bekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit unbekannt ist, dass die Sache nicht dem Veräußerer gehört.
Vorliegend war dem Kläger nicht bekannt, dass der Wagen nicht dem Veräußerer L gehörte. Dass ihm dies unerkannt geblieben ist, beruhte allerdings auf grober Fahrlässigkeit des Klägers beim Kauf, sodass er als bösgläubig i. S. des § 932 II BGB anzusehen ist.
Nach langjähriger Rechtsprechung des BGH liegt grobe Fahrlässigkeit dann vor, wenn beim Erwerb einer Sache die erforderliche Sorgfalt nach den ganzen Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden und wenn unbeachtet geblieben ist, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen (BGH, Urt. v. 11.05.1953 – IV ZR 170/52, BGHZ 10, 14, 16).
Vorliegend hat der Kläger bekundet, er habe ja den Fahrzeugbrief übeerrgeben bekommen, dessen Identifizierungsnummer mit derjenigen des Fahrzeugs übereinstimmte; daher habe er an der Eigentümerstellung des L keine Zweifel gehabt. Dies genügt indessen nicht.
Wird beim Kauf eines gebrauchten Kraftfahrzeugs vom Nichteigentümer der Kraftfahrzeugbrief mit vorgelegt, so rechtfertigt das allein noch nicht die Feststellung, der Erwerber sei gutgläubig. Mit der Rechtsprechung des BGH, nach der in der Regel grob fahrlässig handelt, wer sich beim Gebrauchtwagenkauf nicht den Kraftfahrzeugbrief übergeben lässt, sind nur die Mindestanforderungen für den gutgläubigen Erwerb bestimmt. Auch wenn der Veräußerer im Besitz des Fahrzeugs und des Briefs ist, kann der Erwerber gleichwohl bösgläubig sein, wenn besondere Umstände seinen Verdacht erregen mussten und er diese unbeachtet lässt (BGH, Urt. v. 09.10.1963 – VIII ZR 210/62, WM 1963, 1186; Urt. v. 23.05.1966 – VIII ZR 60/64, WM 1966, 678 = juris Rn. 10).
Beim vorliegenden Kauf des Mercedes-Benz Vito gab es verschiedene geradezu klassische Verdachtsmomente, die den Erwerber zu einer näheren Prüfungs- und Erkundigungspflicht im Hinblick auf das Eigentum des Veräußerers veranlassen mussten. Zu solchen Verdachtsmomente, die Nachforschungsobliegenheiten des Erwerbers auslösen, zählen nach der Rechtsprechung zum Beispiel Person und Auftreten des Veräußerers, die außergewöhnlichen Umstände des Kaufs oder die Konditionen des Kaufvertrags, zum Beipiel ein auffallend niedriger Preis oder der Erwerb hochwertiger Investitionsgüter, die erst seit relativ kurzer Zeit in Gebrauch sind (vgl. zusammenfassend jurisPK-BGB/Beckmann, 8. Aufl. [2017], § 932 Rn. 26–28 m. w. Nachw.). Im hiesigen Fall waren alle diese Umstände gegeben:
Das Fahrzeug, welches einen Neupreis von über 80.000 € hatte und laut der „mobile.de“-Annonce, dem Kaufvertrag sowie den gefälschten Zulassungsbescheinigungen erst fünf Monate alt sein sollte, wurde für den eklatant zu günstigen Preis von 43.750 € angeboten. Gemäß der von der Beklagten zur Akte gereichten „Gebrauchtfahrzeugbewertung nach DAT-System“ betrug der Wiederbeschaffungswert des Fahrzeugs noch im September 2018 über 66.000 €; der Kläger hat das Fahrzeug mithin für weniger als zwei Drittel des regulären Preises erworben. Bei einer behaupteten Unfallfreiheit des Wagens musste bereits dieser Preis den Kläger misstrauisch machen, unabhängig von irgendwelchen Erklärungen des Verkäufers. Weiteres klassisches Verdachtsmoment war der Übergabeort in Holland. Ein betrügerischer Verkauf im Ausland erschwert immer die schnelle Verfolgbarkeit. Hinzu kamen Unstimmigkeiten in Bezug auf den angeblichen Wohnort des Verkäufers. Dieser sollte laut Internetannonce und eigener Mitteilung in D. sein, Fahrzeugpapiere und Kaufvertrag wiesen hingegen einen Wohnort in W. aus – passend zum Kennzeichen des Wagens. Größtes Verdachtsmoment war schließlich der fehlende Zweit-(und Dritt-)Schlüssel. Spätestens dieser Umstand hätte den Kläger aufmerksam machen müssen. Selbst wenn man die Erklärung des Verkäufers L, der Schlüssel sei noch bei seiner Frau in D., noch nachvollziehen kann, so ist es endgültig nicht mehr nachvollziehbar, warum der Kläger nicht auf einer sofortigen Nennung der Kontaktdaten der Frau bestanden hat, um diese zumindest anzurufen und die Möglichkeit einer sofortige Abholbarkeit der Schlüssel zu prüfen. Insgesamt ist es nicht erklärlich, warum der Verkäufer eines derart hochpreisigen, fast neuen Fahrzeugs, der seinen Käufer von sehr weit her hat anreisen lassen, nicht zumindest alle Fahrzeugschlüssel zur Verfügung hält. Die fehlenden Schlüssel sprechen klar gegen eine Eigentümerstellung des Verkäufers.
Ergänzend hierzu gab es verschiedene weitere Verdachtsmomente, die nicht einzeln, aber zusammengenommen den Kläger zu größerer Vorsicht veranlassen mussten.
TÜV Plakette, Kaufvertrag und Fahrzeugschein weisen als nächsten Hauptuntersuchungstermin Januar 2019 aus, einen für einen Quasi-Neuwagen aus 2018 zu frühen Termin.
Der Kaufvertrag (Anlage K 1) macht hinsichtlich des vom Verkäufer bereits ausgefüllten Teils stutzig. Das Schriftbild passt nicht recht zum Eigentum eines sehr hochpreisigen Oberklassefahrzeuges – es zeigt zittrige Druckbuchstaben mit innerhalb eines Wortes wechselnder Groß- und Kleinschreibung; die Unterschrift „L“ erinnert an die eines Grundschülers, nicht aber die eines gutsituierten Erwachsenen. Hinzu kommt der vom Kläger geschilderte leicht osteuropäische Sprachklang. Das Gericht verkennt nicht, dass jedes dieser Kriterien für sich genommen nicht auffällig wäre, die Kriterien in ihrer Gesamtheit mit den Auffälligkeiten des viel zu günstigen Preises, des Übergabeortes im Ausland und den fehlenden Schlüsseln den Kläger aber zu mehr Aufmerksamkeit und genauerer Prüfung veranlassen mussten.
Diesen Nachforschungsobliegenheiten ist der Kläger nicht im gebotenen Maße nachgekommen. Er hat sich auf die flüchtige Einsichtnahme in die Wagenpapiere und die Prüfung der Fahrzeug-Identifizierungsnummer beschränkt. Weitere naheliegende Prüfungen hat er unterlassen. So hat sich der Kläger kein Ausweispapier des L zeigen lassen, um dessen Identität zu prüfen. Er hat sich auch weder Kaufunterlagen des Verkäufers noch Garantieunterlagen oder auch nur das Bordbuch des Fahrzeugs aushändigen bzw. zeigen lassen. Schließlich hat er eine auch nur etwas genauere Betrachtung des Fahrzeugscheins nicht vorgenommen; sonst wäre ihm sofort ins Auge gesprungen, dass dessen Rückseite die Stadt D. als Ausstellerin zeigt, unmittelbar daneben aber Siegel und Wappen der Stadt W. platziert sind.
Der Kläger ist im Ergebnis der ihm angesichts der oben genannten handgreiflichen Anhaltspunkte für Zweifel am Eigentum des L obliegenden Nachforschungspflicht nicht hinreichend nachgekommen. Die persönliche Anhörung des Klägers hat dem Gericht den klaren Eindruck vermittelt, dass der – akademisch gebildete und wirtschaftlich solide im Leben stehende – Kläger über den guten und günstigen Kauf so aufgeregt war, dass er die angesichts aller Umstände angezeigte Skepsis vollkommen außen vor ließ.
Damit kann er sich auf eine Gutgläubigkeit beim Erwerb des Mercedes-Benz Vito nicht berufen. Eigentümerin ist nach wie vor die Beklagte, die in Folge dessen keine Herausgabe des Fahrzeugs schuldet. …
Hinweis: Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg; der 8. Zivilsenat hat sie mit Urteil vom 15.01.2021 – 8 U 129/19 – zurückgewiesen.