- Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.06.2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge ist dahin auszulegen, dass eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte oder auf ihn einwirkende Software ein „Konstruktionsteil“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, da sie auf die Funktion des Emissionskontrollsystems einwirkt und dessen Wirksamkeit verringert.
- Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ist dahin auszulegen, dass unter den Begriff „Emissionskontrollsystem“ im Sinne dieser Bestimmung sowohl die Technologien und die Strategie der Nachbehandlung von Abgasen fallen, mit denen die Emissionen im Nachhinein, das heißt nach ihrer Entstehung, verringert werden, als auch diejenigen, mit denen – wie mit dem System zur Abgasrückführung – die Emissionen im Vorhinein, das heißt bei ihrer Entstehung, verringert werden.
- Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ist dahin auszulegen, dass eine Einrichtung, die jeden Parameter im Zusammenhang mit dem Ablauf der in der Verordnung vorgesehenen Zulassungsverfahren erkennt, um die Leistung des Emissionskontrollsystems bei diesen Verfahren zu verbessern und so die Zulassung des Fahrzeugs zu erreichen, eine „Abschalteinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, selbst wenn eine solche Verbesserung punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann.
- Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ist dahin auszulegen, dass eine Abschalteinrichtung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen verbessert, damit die in der Verordnung festgelegten Emissionsgrenzwerte eingehalten werden und so die Zulassung dieser Fahrzeuge erreicht wird, nicht unter die in dieser Bestimmung, die den Schutz des Motors vor Beschädigung oder Unfall und den sicheren Betrieb des Fahrzeugs betrifft, vorgesehene Ausnahme vom Verbot solcher Einrichtungen fallen kann, selbst wenn die Einrichtung dazu beiträgt, den Verschleiß oder die Verschmutzung des Motors zu verhindern.
EuGH (Zweite Kammer), Urteil vom 17.12.2020 – C-693/18 (X/CLCV u. a.)
Das vorliegende Urteil betrifft die Auslegung von Art. 3 Nr. 10 und Art. 5 II der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.06.2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl. 2007 L 171, 1). Es ergeht Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen den Automobilhersteller X, dem zur Last gelegt wird, Fahrzeuge mit einer Software auf den französischen Markt gebracht zu haben, die anhand der festgestellten Fahrbedingungen das System zur Kontrolle der Schadstoffemissionen beeinflussen kann.
Sachverhalt: X ist ein Automobilhersteller, der in Frankreich Kraftfahrzeuge vertreibt. Das Unternehmen soll in Frankreich Fahrzeuge mit einer Software in Verkehr gebracht haben, die geeignet ist, die Genehmigungsphase der Fahrzeuge zu erkennen, um die Ergebnisse der in dieser Phase durchgeführten Tests von Schadstoffemissionen, insbesondere von Stickstoffoxid (NOX), zu verfälschen.
Am 28.09.2015, im Anschluss an Veröffentlichungen in der Presse, zeigte der für Verkehr zuständige Vizepräsident des Regionalrats der Île-de-France die Gesellschaft X bei der Staatsanwaltschaft Paris (Frankreich) wegen des Inverkehrbringens von Fahrzeugen mit der fraglichen Software an. Am 02.10.2015 befasste die Staatsanwaltschaft Paris das Zentralamt zur Bekämpfung von Umweltschäden und für öffentliche Gesundheit mit diesem – von ihr als „schwerer Betrug“ eingestuften – Sachverhalt und forderte das Amt auf, eine Untersuchung der Bedingungen einzuleiten, unter denen die betreffenden Fahrzeuge auf den französischen Markt gebracht worden waren. Gleichzeitig ersuchte die französische Ministerin für Ökologie, nachhaltige Entwicklung und Energie den Service national des enquêtes (Nationaler Ermittlungsdienst, SNE) der Direction générale de la concurrence, de la consommation et de la répression des fraudes (Generaldirektion Wettbewerb, Verbraucherschutz und Betrugsbekämpfung), Ermittlungen aufzunehmen, um zu klären, ob in Frankreich vertriebene Fahrzeuge mit einer solchen Software ausgestattet seien.
Im Rahmen der die Schadstoffemissionen betreffenden Teilzulassung werden die Fahrzeuge mittels eines Protokolls getestet, dessen Parameter (u. a. Drehzahlprofil, Temperatur und Vorbehandlung des Fahrzeugs) regulatorisch festgelegt sind. Das für den Zulassungstest verwendete Drehzahlprofil namens „New European Driving Cycle“ (NEDC) besteht in der Wiederholung von vier Stadtfahrzyklen, gefolgt von einem außerstädtischen Fahrzyklus, in einem Labor. Mit ihm soll geprüft werden, ob die ausgestoßene NOX-Menge unter der in Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 vorgesehenen Obergrenze liegt.
Eine der Technologien, die von den Automobilherstellern, unter anderem dem Unternehmen X, zur Kontrolle und Reduzierung der durch die unvollständige Verbrennung des Kraftstoffs erzeugten NOX-Emissionen verwendet werden, ist das Abgasrückführventil (im Folgenden: AGR-Ventil). Wird das AGR-Ventil geöffnet, gelangen die Abgase in den Gasansaugkrümmer, damit sie ein zweites Mal verbrannt und mittels eines Wärmetauschers gekühlt werden. Das Ventil wird durch einen Motorsteuerungsrechner kontrolliert, und zwar durch ein On-Board?Informationssystem des Fahrzeugs, das die verschiedenen darin integrierten Funktionen elektronisch steuert, etwa diejenigen, die den Motor, das Getriebe oder die Sicherheit betreffen. Die Öffnung des AGR-Ventils wird in Echtzeit vom Rechner gesteuert, der nach Maßgabe der von verschiedenen Sensoren gesammelten Informationen (Geschwindigkeit, Motortemperatur, Lufttemperatur u. a.) Befehle an den Stellantrieb des Ventils sendet. Die Wirksamkeit des Abgasreinigungssystems hängt somit von der Öffnung dieses Ventils ab, für die der Quellcode der in den Rechner integrierten Software maßgebend ist.
Der Service national des enquêtes (SNE) fügte seinem Bericht die Ergebnisse der Tests und Prüfungen der Union technique de l’automobile, du motocycle et du cycle (Technischer Verband für Automobile, Motorräder und Fahrräder, UTAC) bei, der einzigen Einrichtung, die in Frankreich befugt ist, Genehmigungstests für Fahrzeuge durchzuführen. Aus diesen Tests, mit denen festgestellt werden sollte, ob Anhaltspunkte für einen Betrug bei den Abgastests bestehen, ging hervor, dass die NOX-Emissionen bei einigen geprüften Fahrzeugen des Unternehmens X um den Faktor 2, 3,2, 3,4 oder 3,6 höher waren als die im Stadium ihrer Genehmigung ermittelten Werte.
Weitere Tests von drei Fahrzeugen dieses Unternehmens, mit denen das Institut français du pétrole Énergies Nouvelles (Französisches Institut für Erdöl und neue Energien, IFPEN) betraut wurde, bestätigten, dass sich die NOX-Emissionen verringerten, wenn ein Typgenehmigungszyklus erkannt wurde, wobei das AGR-Ventil dann deutlich weiter geöffnet war.
Am 16.10.2015 gab der Leiter der französischen Tochtergesellschaft des Unternehmens X bei einer freien Vernehmung an, dass er nicht über die Funktionsweise dieser Software und ihren betrügerischen Charakter informiert gewesen sei, und fügte hinzu, die damit ausgestatteten Fahrzeuge würden zurückgerufen, um die Software zu aktualisieren.
Am 15. und 18.12.2015 leitete eine Anwaltskanzlei auf Betreiben des Unternehmens X den Ermittlern ein Schriftstück zu, mit dem nachgewiesen werden sollte, dass das AGR-System nicht als „Abschalteinrichtung“ im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 angesehen werden könne.
Im Anschluss an die Ermittlungen rief die Staatsanwaltschaft am 19.02.2016 drei Untersuchungsrichter des Tribunal de grande instance de Paris (Regionalgericht Paris, Frankreich) an. In der verfahrenseinleitenden Anklageschrift wird dem Unternehmen X zur Last gelegt, seit dem 01.09.2009 im französischen Hoheitsgebiet die Erwerber von Fahrzeugen mit Dieselmotoren der Generation Euro 5 und Euro 6 über wesentliche Eigenschaften der Fahrzeuge, und zwar das Vorhandensein einer gegen die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 verstoßenden Abschalteinrichtung, und über die durchgeführten Kontrollen getäuscht zu haben, wobei erschwerend hinzukomme, dass infolgedessen der Gebrauch der Waren eine Gefährdung der Gesundheit von Mensch oder Tier darstelle.
Die Untersuchungsrichter des Tribunal de grande instance de Paris (Regionalgericht Paris) ordneten die Erstellung eines Gerichtsgutachtens zur Auswertung der Ergebnisse der behördlichen, von der UTAC und dem IFPEN durchgeführten Tests und aller übrigen technischen Analysen zwecks Beschreibung des Mechanismus der fraglichen Software und ihrer Auswirkungen auf die Erhöhung der NOX-Emissionen der mit ihnen ausgestatteten Fahrzeuge an.
In seinem am 26.04.2017 vorgelegten Bericht stellte der Sachverständige fest, dass die betreffenden Fahrzeuge mit einer Vorrichtung versehen seien, die in der Lage sei, den Genehmigungszyklus zu erkennen, die Funktionsweise der Abgasrückführung für die Zwecke der Genehmigung anzupassen und die NOX-Emissionen im Rahmen dieses Verfahrens zu verringern. Ihre Emissionskontrollsysteme seien manipuliert worden, damit das AGR-Ventil weiter geöffnet sei, wenn ein Genehmigungszyklus erkannt werde. Die geringere Öffnung des Ventils unter normalen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge vermindere die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems und führe zu erhöhten NOX-Emissionen. Der Sachverständige fügte hinzu, wenn das AGR-Ventil unter normalen Nutzungsbedingungen ebenso funktioniert hätte wie bei den Genehmigungsverfahren, hätten die betreffenden Fahrzeuge deutlich weniger NOX erzeugt, ihr Verbrauch und ihre Leistung hätten sich verringert, und es wären häufigere und kostspieligere Instandhaltungsarbeiten angefallen. Dank der vorgenommenen Manipulation hätten die Fahrzeuge schneller beschleunigt, hätten eine höhere Leistung entfaltet, und die Einlassleitungen, die Ventile und die Verbrennungskammer seien weniger verschmutzt worden, was zur Langlebigkeit und Zuverlässigkeit des Motors beitrage. Ohne die Manipulation wären die betreffenden Fahrzeuge mithin nicht genehmigt worden.
Am 28.03.2017 wurde das Unternehmen X von den Untersuchungsrichtern des Tribunal de grande instance de Paris (Regionalgericht Paris) vorgeladen. Als Zeuge mit Rechtsbeistand weigerte es sich, die ihm gestellten Fragen zu beantworten. Ferner weigerten sich die Justizbehörden seines Sitzmitgliedstaats, die von den Untersuchungsrichtern angeforderten Ermittlungsergebnisse zur Verfügung zu stellen. Im Rahmen des gerichtlichen Ermittlungsverfahrens traten zudem mehr als 1.200 Personen als Nebenkläger auf.
Die Untersuchungsrichter des Tribunal de grande instance de Paris (Regionalgericht Paris) führen aus, da die Vorrichtungen, die eingesetzt würden, um die Funktion der Emissionskontrollsysteme der Fahrzeuge zu beeinflussen, verschiedene Formen annehmen könnten, müsse geklärt werden, was unter dem Begriff „Abschalteinrichtung“ i. S. von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu verstehen sei. Bei seiner Definition werde auf mehrere Begriffe zurückgegriffen, die vom Gerichtshof noch nicht ausgelegt worden seien. Da die im Rahmen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden strafrechtlichen Ermittlungen in Betracht gezogene Subsumierung unter den Betrugstatbestand auf der Einstufung als „Abschalteinrichtung“ i. S. von Art. 3 Nr. 10 und Art. 5 II der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 beruhe, sei eine Auslegung dieser Bestimmungen erforderlich, um darüber entscheiden zu können, ob gegen das Unternehmen X Anklage erhoben und nach Abschluss der Ermittlungen das Hauptverfahren eröffnet werden solle.
Unter diesen Umständen haben die Untersuchungsrichter des Tribunal de grande instance de Paris (Regionalgericht Paris) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Auslegung des Begriffs des Konstruktionsteils
a) Was fällt unter den Begriff des Konstruktionsteils, der in dem eine Abschalteinrichtung (defeat device) definierenden Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 angeführt wird?
b) Ist ein in den Motorsteuerungsrechner integriertes oder ganz allgemein auf diesen einwirkendes Programm als Konstruktionsteil im Sinne des genannten Artikels anzusehen?2. Auslegung des Begriffs des Emissionskontrollsystems
a) Was fällt unter den Begriff des Emissionskontrollsystems, der in dem eine Abschalteinrichtung (defeat device) definierenden Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 angeführt wird?
b) Schließt dieses Emissionskontrollsystem lediglich Technologien und Strategien zur Behandlung und Verringerung von Emissionen (u. a. von NOX) nach ihrer Bildung ein, oder erfasst es auch die verschiedenen Technologien und Strategien zur Begrenzung ihrer Erzeugung an der Basis wie die AGR-Technologie?3. Auslegung des Begriffs der Abschalteinrichtung (defeat device)
a) Ist eine Einrichtung, die jeden Parameter im Zusammenhang mit dem Ablauf der Typgenehmigungsverfahren nach der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems im Rahmen dieser Verfahren zu aktivieren oder nach oben zu modulieren und damit die Fahrzeugzulassung zu erhalten, eine Abschalteinrichtung i. S. von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007?
b) Falls ja: Ist diese Abschalteinrichtung nach Art. 5 II 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 verboten?
c) Ist eine Einrichtung wie die die in Buchstabe a beschriebene als „Abschalteinrichtung“ einzustufen, falls die Modulierung des Emissionskontrollsystems nach oben nicht nur in Typgenehmigungsverfahren, sondern punktuell auch dann wirksam ist, wenn die ermittelten genauen Bedingungen, unter denen das Emissionskontrollsystem in diesen Typgenehmigungsverfahren nach oben moduliert wird, im realen Verkehr gegeben sind?4. Auslegung der Ausnahmen nach Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007
a) Was fällt unter die drei Ausnahmen nach Art. 5 II 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007?
b) Könnte vom Verbot einer Abschalteinrichtung, die speziell in Typgenehmigungsverfahren die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems aktiviert oder nach oben moduliert, aus einem der drei in Art. 5 II 2 der Verordnung aufgeführten Gründe abgewichen werden?
c) Gehört eine Verzögerung des Verschleißes oder der Verschmutzung des Motors zu den Erfordernissen, „um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen“ oder „den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten“, die das Vorhandensein einer Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 II 1 Buchst. a der Verordnung rechtfertigen können?
Der EuGH hat diese Fragen wie aus dem Leitsatz ersichtlich beantwortet.
Aus den Gründen: Zur Zulässigkeit
[45] Das Unternehmen X macht geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig. Erstens sei eine Antwort des Gerichtshofs auf die gestellten Fragen für die Entscheidung des vorlegenden Gerichts im Ausgangsverfahren nicht erforderlich. Eine solche Antwort könne keinen Einfluss auf die Charakterisierung der Tatbestandsmerkmale des ihm nach französischem Strafrecht zur Last gelegten schweren Betrugs haben.
[46] Zweitens würde gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen verstoßen, wenn die Charakterisierung der Zuwiderhandlung von der Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 abhängig gemacht würde.
[47] Drittens gebe es in diesem Stadium kein Verfahren vor dem vorlegenden Gericht im Zusammenhang mit den gestellten Fragen, sodass diese rein hypothetisch seien. Da zu ihnen noch keine Stellungnahme abgegeben worden sei, werde lediglich um ein Gutachten zu Vorschriften des Unionsrechts ersucht.
[48] Viertens seien die gestellten Fragen nicht kontradiktorisch erörtert worden, was gegen den Grundsatz der geordneten Rechtspflege verstoße.
[49] Fünftens würden, auch wenn die gestellten Fragen die Überlegungen des vorlegenden Gerichts widerspiegelten, in der Vorlageentscheidung weder die Gründe, aus denen die Auslegung der Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 seines Erachtens für die Entscheidung im Ausgangsverfahren angebracht sei, noch der Zusammenhang zwischen ihrer Auslegung und dem Ausgangsverfahren mit der nötigen Klarheit dargelegt. Zudem seien die Vorlagefragen verfrüht gestellt worden, da der tatsächliche Rahmen in diesem Stadium der Ermittlungen noch nicht hinreichend genau geklärt worden sei.
[50] Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof daher grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (EuGH, Urt. v. 24.11.2020 – C-510/19, EU:C:2020:953 Rn. 25 m. w. Nachw. – Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung]).
[51] Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (EuGH, Urt. v. 24.11.2020 – C-510/19, EU:C:2020:953 Rn. 26 m. w. Nachw. – Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung]).).
[52] Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass der rechtliche und tatsächliche Rahmen des Ausgangsverfahrens sowie die Gründe, aus denen das vorlegende Gericht eine Antwort auf die in diesem Verfahren gestellten Fragen für den Erlass seiner Entscheidung für erforderlich hält, in der Vorlageentscheidung ausführlich dargestellt sind.
[53] Aus der Vorlageentscheidung geht ferner hervor, dass die im nationalen Recht für einen Sachverhalt, wie er dem Unternehmen X zur Last gelegt wird, vorgesehene Einstufung als „schwerer Betrug“ davon abhängt, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Software als „Abschalteinrichtung“ i. S. von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007, deren Verwendung nach Art. 5 II der Verordnung unzulässig ist, angesehen werden kann.
[54] Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität und dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht.
[55] Sodann ist hinsichtlich der Feststellung der Tatbestandsmerkmale des schweren Betrugs nach französischem Strafrecht darauf hinzuweisen, dass die Auslegung des nationalen Rechts im Rahmen eines von Art. 267 AEUV erfassten Verfahrens ausschließlich Sache des vorlegenden Gerichts ist (EuGH, Urt. v. 13.11.2018 – C-33/17, EU:C:2018:896 – ?epelnik Rn. 24 m. w. Nachw.), sodass die dahin gehende Argumentation des Unternehmens X nicht genügt, um die in Randnummer 51 des vorliegenden Urteils angesprochene Vermutung der Entscheidungserheblichkeit zu widerlegen.
[56] Das Gleiche gilt für die Argumentation des Unternehmens X zum Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen. Die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 enthält nämlich keine strafrechtlichen Sanktionen, sodass dieser Grundsatz für die Beurteilung der Zulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens irrelevant ist.
[57] Schließlich kann der Argumentation des Unternehmens X, wonach die Vorlagefragen nicht kontradiktorisch erörtert worden seien, nicht gefolgt werden, da Art. 267 AEUV die Anrufung des Gerichtshofs nicht davon abhängig macht, dass das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht kontradiktorischen Charakter hat (EuGH, Urt. v. 16.07.2020 – C-658/18, EU:C:2020:572 Rn. 63 – Governo della Repubblica italiana [Status der italienischen Friedensrichter]).
[58] Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.
Zur Beantwortung der Fragen
Zur ersten Frage
[59] Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte oder auf ihn einwirkende Software ein „Konstruktionsteil“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt.
[60] In Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 wird „Abschalteinrichtung“ definiert als „ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird“.
[61] Der Begriff „Konstruktionsteil“ wird in dieser Bestimmung nicht definiert.
[62] Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die im Unionsrecht nicht definiert werden, entsprechend ihrem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen, wobei zu berücksichtigen ist, in welchem Kontext sie verwendet werden und welche Ziele mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehören (EuGH, Urt. v. 01.10.2020 – C-526/19, EU:C:2020:769 Rn. 29 – Entoma).
[63] Erstens ist festzustellen, dass mit dem Begriff „Konstruktionsteil“ nach seinem üblichen Sinn ein im Hinblick auf seine Einbeziehung in ein funktionales Ganzes hergestellter Gegenstand bezeichnet wird.
[64] Zweitens geht aus Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 hervor, dass unter den Begriff der Abschalteinrichtung im Sinne dieser Bestimmung „ein“, das heißt jedes Konstruktionsteil fällt. Insoweit ist der französischen Regierung und der Kommission beizupflichten, dass eine solche Definition der Abschalteinrichtung dem Begriff „Konstruktionsteil“ eine große Tragweite verleiht, die sich sowohl auf die mechanischen Teile als auch auf die ihre Aktivierung steuernden elektronischen Teile erstreckt, soweit sie auf die Funktion des Emissionskontrollsystems einwirken und dessen Wirksamkeit verringern.
[65] Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die Öffnung des AGR-Ventils in Echtzeit von einem der Rechner zur Motorsteuerung geregelt wird, bei dem es sich um ein On-Board?Informationssystem des Fahrzeugs handelt. Dieser Rechner sendet nach Maßgabe der von verschiedenen Sensoren gesammelten Informationen (u. a. Geschwindigkeit oder Motortemperatur) Befehle an den Stellantrieb des AGR-Ventils. Die Wirksamkeit der Abgasreinigung hängt von der Öffnung dieses Ventils ab, die sich nach dem Quellcode der in den Rechner integrierten Software richtet.
[66] Da eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte Software wie die hier in Rede stehende somit auf die Funktion des Emissionskontrollsystems einwirkt und dessen Wirksamkeit verringert, handelt es sich bei ihr um ein „Konstruktionsteil“ i. S. von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007.
[67] Diese weite Auslegung des Begriffs „Konstruktionsteil“ wird durch das mit der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 verfolgte Ziel bestätigt, das nach ihrem sechsten Erwägungsgrund darin besteht, zur Verbesserung der Luftqualität und zur Einhaltung der Luftverschmutzungsgrenzwerte die NOX-Emissionen bei Dieselfahrzeugen erheblich zu mindern.
[68] Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte oder auf ihn einwirkende Software ein „Konstruktionsteil“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, da sie auf die Funktion des Emissionskontrollsystems einwirkt und dessen Wirksamkeit verringert.
Zur zweiten Frage
[69] Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff „Emissionskontrollsystem“ im Sinne dieser Bestimmung nur die Technologien und die Strategie der Nachbehandlung von Abgasen fallen, mit denen die Emissionen im Nachhinein, das heißt nach ihrer Entstehung, verringert werden, oder dahin, dass darunter auch diejenigen fallen, mit denen – wie mit dem AGR-System – die Emissionen im Vorhinein, das heißt bei ihrer Entstehung, verringert werden.
[70] Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass es zwei Strategien gibt, die von den Herstellern in ihren Dieselfahrzeugen eingesetzt werden können, um die Schadstoffemissionen zu verringern. Zum einen handelt es sich dabei um die sogenannte motorinterne Strategie wie das AGR-System, die darin besteht, die Entstehung von Schadstoffen im Motor selbst zu verringern, und zum anderen um die sogenannte Nachbehandlung von Abgasen, die darin besteht, auf die Abgasemissionen nach ihrer Entstehung einzuwirken.
[71] In der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 wird der Begriff „Emissionskontrollsystem“ als solcher nicht definiert, aber in ihrer Präambel heißt es, dass es angesichts des mit ihr angestrebten Ziels der Verringerung von Emissionen erforderlich sei, Einrichtungen zur Messung und damit zur Kontrolle der bei der Nutzung eines Fahrzeugs auftretenden Emissionen vorzusehen.
[72] Nach der in Randnummer 62 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Rechtsprechung sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem üblichen Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Kontexts, in dem sie verwendet werden, sowie der Ziele zu bestimmen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden.
[73] Zunächst ist festzustellen, dass das Emissionskontrollsystem nach seinem Wortlaut zu den Bestandteilen eines Fahrzeugs gehört und dazu dient, dessen Emissionen zu kontrollieren.
[74] Insoweit ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass das AGR-System eine Einrichtung ist, die allein zur Verringerung und damit zur Kontrolle der NOX-Emissionen dient. Infolgedessen kann aus Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht geschlossen werden, dass eine solche Einrichtung technisch nicht zum Emissionskontrollsystem gehören könnte, weil sie es ermöglicht, die Menge der NOX-Emissionen anhand im Voraus festgelegter Parameter zu kontrollieren.
[75] Eine solche Auslegung wird zudem durch den Kontext von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 gestützt. Er gehört zu Kapitel I („Gegenstand, Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen“) der Verordnung und ist anhand ihrer verschiedenen Bestimmungen zu prüfen sowie anhand des Regelungsrahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen innerhalb der Union, in den sich die Verordnung einfügt.
[76] Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Anhang IV Teil I der Rahmenrichtlinie eine Aufzählung der Rechtsakte enthält, in denen die inhaltlichen Voraussetzungen vorgesehen sind, die erfüllt sein müssen, damit die Typgenehmigung für ein Kraftfahrzeug erteilt wird. Die dort genannte Verordnung (EG) Nr. 715/2007 sieht in ihrem Art. 5 vor, dass der Hersteller das Fahrzeug so ausrüstet, dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen der Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht. In Bezug auf die Emissionskontrolle werden in diesem Artikel spezifische technische Anforderungen aufgestellt, die in der Verordnung (EG) Nr. 692/2008 festgelegt worden sind. Diese verweist ihrerseits, in Bezug auf bestimmte technische Anforderungen an die Typgenehmigung von Fahrzeugen, auf die UN/ECE?Regelung Nr. 83.
[77] Erstens sieht Art. 4 II der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 vor, dass die vom Hersteller ergriffenen technischen Maßnahmen sicherstellen müssen, dass unter anderem die Auspuffemissionen während der gesamten normalen Lebensdauer eines Fahrzeugs bei normalen Nutzungsbedingungen wirkungsvoll begrenzt werden. Insoweit wird der Begriff „Auspuffemissionen“ in Art. 3 Nr. 6 der Verordnung definiert als „die Emissionen gasförmiger und partikelförmiger Schadstoffe“.
[78] In diesen Vorschriften wird somit nur das von den Herstellern zu erreichende Ziel einer Begrenzung der Auspuffemissionen festgelegt, ohne die Mittel zu seiner Erreichung näher anzugeben.
[79] Folglich ist Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 im Licht ihrer übrigen Bestimmungen dahin auszulegen, dass der Begriff „Emissionskontrollsystem“ die Technologien und die Strategie, mit denen die Emissionen im Vorhinein, das heißt bei ihrer Entstehung, verringert werden, nicht ausschließt.
[80] Zweitens wird in der UN/ECE?Regelung Nr. 83, insbesondere in ihrem Absatz 2.16, ebenfalls auf den Begriff „Emissionskontrollsystem“ Bezug genommen, ohne jedoch näher anzugeben, ob er auf Maßnahmen zur Behandlung von Emissionen nach ihrer Entstehung verweist oder auf Maßnahmen zur Begrenzung ihrer Entstehung.
[81] In dieser Vorschrift wird der Begriff „Abschalteinrichtung“ nämlich ähnlich definiert wie in Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007. Aus Absatz 2.16 kann folglich nicht geschlossen werden, dass das „Emissionskontrollsystem“ im dortigen Sinne nur die Technologien und die Strategie zur Verringerung der Abgasemissionen nach ihrer Entstehung erfasst und nicht diejenigen, mit denen ihre Entstehung begrenzt werden soll.
[82] Außerdem heißt es in Absatz 7.3.1.2 („Abgasreinigungsanlage“) der UN/ECE?Regelung Nr. 83, dass das AGR-System zu diesen Parametern gehört. Aus diesen Vorschriften folgt somit, dass das AGR-System unter den Begriff „Emissionskontrollsystem“ fällt.
[83] Drittens wird zwar in Art. 2 Nr. 18 der Verordnung (EG) Nr. 692/2008 das „Emissionsminderungssystem“ definiert als „im Zusammenhang mit einem OBD-System die elektronische Motorsteuerung sowie jedes emissionsrelevante Bauteil im Abgas- oder Verdunstungssystem, das diesem Steuergerät ein Eingangssignal übermittelt oder von diesem ein Ausgangssignal erhält“, wobei die Verordnung (EG) Nr. 692/2008 zahlreiche Vorschriften über verschiedene Systeme zur Behandlung von Emissionen enthält, die als „Emissionsminderungssystem“ bezeichnet werden. Die gleiche Bezeichnung findet sich aber auch für motorinterne Systeme zur Begrenzung der Entstehung von Emissionen. Insoweit ist in Anlage 2 von Anhang XI der Verordnung die Abgasrückführung ausdrücklich unter den Emissionsminderungssystemen aufgeführt. Genau dazu dient aber das AGR-System.
[84] Überdies wird bei den Typgenehmigungsverfahren für Kraftfahrzeuge die Höhe der Emissionen stets am Auslass des Auspuffs gemessen, wie aus Anhang 3 der Verordnung (EG) Nr. 692/2008 hervorgeht. Daher kann nicht zwischen der Strategie einer Verringerung der Abgasemissionen nach ihrer Entstehung und der Strategie ihrer Begrenzung bei der Entstehung differenziert werden.
[85] Aus dem Kontext von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ergibt sich somit, dass unter den Begriff „Emissionskontrollsystem“ sowohl die Technologien und die Strategie fallen, mit denen die Emissionen nach ihrer Entstehung im Motor der Fahrzeuge verringert werden sollen, als auch diejenigen, mit denen ihre Entstehung begrenzt werden soll.
[86] Schließlich wird diese Auslegung auch durch das mit der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 verfolgte Ziel bestätigt, das darin besteht, ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen.
[87] Wie im ersten Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 dargelegt wird, sollten nämlich die technischen Vorschriften für die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich ihrer Emissionen harmonisiert werden, um unter anderem dieses Ziel sicherzustellen. Ferner heißt es im fünften Erwägungsgrund der Verordnung, dass fortwährende Bemühungen zur Senkung von Kraftfahrzeugemissionen erforderlich sind, um die Ziele der Union für die Luftqualität zu erreichen. Nach ihrem sechsten Erwägungsgrund ist zur Verbesserung der Luftqualität und zur Einhaltung der Luftverschmutzungsgrenzwerte insbesondere eine erhebliche Minderung der NOX-Emissionen bei Dieselfahrzeugen erforderlich.
[88] Nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 muss der Hersteller nachweisen, dass die von ihm ergriffenen technischen Maßnahmen sicherstellen, dass u. a. die Auspuffemissionen während der gesamten normalen Lebensdauer eines Fahrzeugs bei normalen Nutzungsbedingungen wirkungsvoll begrenzt werden.
[89] Infolgedessen steht die Auslegung des Begriffs „Emissionskontrollsystem“ in Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007, wonach darunter sowohl die Technologien und die Strategie fallen, mit denen die Emissionen nach ihrer Entstehung im Motor des Fahrzeugs verringert werden sollen, als auch diejenigen, mit denen ihre Entstehung begrenzt werden soll, im Einklang mit dem Ziel, das diese Verordnung verfolgt. Wie die Generalanwältin in Nummer 106 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, würde eine Beschränkung der Tragweite dieses Begriffs auf die Technologien und die Strategie zur Verringerung der Abgasemissionen nach ihrer Entstehung der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nämlich einen erheblichen Teil ihrer praktischen Wirksamkeit nehmen.
[90] Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff „Emissionskontrollsystem“ im Sinne dieser Bestimmung sowohl die Technologien und die Strategie der Nachbehandlung von Abgasen fallen, mit denen die Emissionen im Nachhinein, das heißt nach ihrer Entstehung, verringert werden, als auch diejenigen, mit denen – wie mit dem AGR-System – die Emissionen im Vorhinein, das heißt bei ihrer Entstehung, verringert werden.
Zu den Buchstaben a und c der dritten Frage
[91] Mit den Buchstaben a und c seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass eine Einrichtung, die jeden Parameter im Zusammenhang mit dem Ablauf der in der Verordnung vorgesehenen Zulassungsverfahren erkennt, um die Leistung des Emissionskontrollsystems bei diesen Verfahren zu verbessern und so die Zulassung des Fahrzeugs zu erreichen, eine „Abschalteinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, selbst wenn eine solche Verbesserung punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann.
[92] Wie bereits ausgeführt, werden die Fahrzeuge im Rahmen der die Schadstoffemissionen betreffenden Teilzulassung anhand des NEDC?Drehzahlprofils getestet, das in der Wiederholung von vier Stadtfahrzyklen, gefolgt von einem außerstädtischen Fahrzyklus, in einem Labor besteht. Damit soll unter anderem geprüft werden, ob die ausgestoßene NOx-Menge unter der in der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 vorgesehenen Obergrenze liegt. Die Testzyklen für die Emissionen der Fahrzeuge im Rahmen dieses Verfahrens beruhen nicht auf Bedingungen des realen Verkehrs.
[93] Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Software ermöglicht es, die Parameter zu ermitteln, die denen der im Labor anhand des NEDC?Profils durchgeführten Tests entsprechen, und gegebenenfalls das AGR-Ventil weiter zu öffnen, damit ein größerer Teil der Abgase in den Gasansaugkrümmer gelangt, und so die Emissionen des getesteten Fahrzeugs zu verringern. Diese Software erlaubt es mithin, die Funktion des AGR-Ventils zu intensivieren, damit die Emissionen die in der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 festgelegten Grenzwerte nicht überschreiten. Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung liegen die NOX-Emissionen, wenn die Software kein NEDC?Profil erkennt und deshalb von normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs ausgeht, über den in der Testphase gemessenen Emissionen und stehen auch nicht im Einklang mit den in der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 festgelegten Grenzwerten.
[94] Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (EuGH, Urt. v. 18.11.2020 – C-77/19, EU:C:2020:934 Rn. 39 m. w. Nachw. – Kaplan International colleges UK).
[95] Zunächst ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007, dass eine Abschalteinrichtung „die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind“, verringern soll.
[96] Folglich könnte aus dem Wortlaut dieser Vorschrift geschlossen werden, dass eine Einrichtung wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende AGR-System, die geschaffen wurde, um für eine mit der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 im Einklang stehende Begrenzung der Emissionen zu sorgen, sowohl während der Zulassungstests im Labor als auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs betriebsbereit sein muss.
[97] Sodann ergibt sich zum Kontext von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aus Rn. 77 des vorliegenden Urteils, dass nach Art. 4 Abs. 2 der Verordnung die vom Hersteller ergriffenen technischen Maßnahmen sicherstellen müssen, dass unter anderem die Auspuffemissionen während der gesamten normalen Lebensdauer eines Fahrzeugs bei normalen Nutzungsbedingungen wirkungsvoll begrenzt werden. Ferner sieht Art. 5 I der Verordnung vor, dass der Hersteller die Fahrzeuge so ausrüsten muss, dass die Bauteile, die sich auf das Emissionsverhalten auswirken, es erlauben, dass die Fahrzeuge unter normalen Betriebsbedingungen die in der Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen vorgesehenen Emissionsgrenzwerte einhalten.
[98] Diesem Kontext lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass es möglich wäre, zwischen der Funktionsweise der streitigen Einrichtung während der Phase der Zulassungstests und im Betrieb unter normalen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge zu unterscheiden. Wie die Generalanwältin in Nummer 124 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, liefe nämlich der Einbau einer Einrichtung, deren einziger Zweck darin bestünde, die Einhaltung der in der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 vorgesehenen Grenzwerte allein während der Zulassungstests sicherzustellen, der Verpflichtung zuwider, bei normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs eine wirkungsvolle Begrenzung der Emissionen sicherzustellen.
[99] Folglich ist einer Auslegung von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu folgen, wonach eine Software wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Höhe der Fahrzeugemissionen anhand der von ihr ermittelten Fahrbedingungen verändert und die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte nur unter Bedingungen gewährleistet, die denen der Zulassungstests entsprechen, eine „Abschalteinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Eine solche Einrichtung stellt somit auch dann eine Abschalteinrichtung dar, wenn die Verbesserung der Leistung des Emissionskontrollsystems punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann.
[100] Diese Auslegung wird schließlich durch das mit der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 verfolgte Ziel bestätigt, das darin besteht, die NOX-Emissionen erheblich zu verringern und ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen (s. oben Rn. 86 und 87).
[101] Die Tatsache, dass die normalen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge nach den Angaben in der Vorlageentscheidung in Ausnahmefällen den Fahrbedingungen bei den Zulassungstests entsprechen und damit die Leistung der fraglichen Einrichtung punktuell verbessern können, hat keinen Einfluss auf diese Auslegung, da unter normalen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge das Ziel einer Verringerung der NOX-Emissionen in der Regel nicht erreicht wird.
[102] Nach alledem ist auf die Buchstaben a und c der dritten Frage zu antworten, dass Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass eine Einrichtung, die jeden Parameter im Zusammenhang mit dem Ablauf der in der Verordnung vorgesehenen Zulassungsverfahren erkennt, um die Leistung des Emissionskontrollsystems bei diesen Verfahren zu verbessern und so die Zulassung des Fahrzeugs zu erreichen, eine „Abschalteinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, selbst wenn eine solche Verbesserung punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann.
Zu Buchstabe b der dritten Frage und zur vierten Frage
[103] Einleitend ist festzustellen, dass sich Buchst. b der dritten Frage und die vierte Frage auf alle in Art. 5 II 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 vorgesehenen Ausnahmen beziehen. Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, sind die in Art. 5 II 2 lit. b und c der Verordnung vorgesehenen Ausnahmen aber für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens irrelevant. Eine Auslegung der Buchstaben b und c von Art. 5 II 2 ist daher nicht erforderlich.
[104] Mit den genannten Fragen möchte das vorlegende Gericht somit wissen, ob Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass eine Abschalteinrichtung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die die Leistung des Systems zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen bei Zulassungsverfahren systematisch gegenüber der Leistung unter normalen Nutzungsbedingungen verbessert, unter die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme vom Verbot solcher Einrichtungen fallen kann, wenn die Einrichtung dazu beiträgt, den Verschleiß oder die Verschmutzung des Motors zu verhindern.
[105] Nach Art. 5 II 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, unzulässig. Von diesem Verbot gibt es jedoch drei Ausnahmen; unter anderem gilt das Verbot nach Art. 5 II 2 lit. a nicht, wenn „die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten“.
[106] Die Begriffe „Beschädigung“ und „Unfall“ werden weder in Art. 5 noch in einer anderen Bestimmung der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 definiert.
[107] Wie sich aus der in Randnummer 62 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, sind die Bedeutung und Tragweite dieser in der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht definierten Begriffe nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs entsprechend ihrem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen, wobei zu berücksichtigen ist, in welchem Kontext sie verwendet werden und welche Ziele mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehören.
[108] Nach seinem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff „Unfall“, wie die Generalanwältin in Nummer 135 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ein unvorhergesehenes und plötzliches Ereignis, das Schäden oder Gefahren wie Verletzungen oder den Tod nach sich zieht, während der Begriff „Beschädigung“ einen im Allgemeinen auf einer gewaltsamen oder plötzlichen Ursache beruhenden Schaden bezeichnet.
[109] Folglich ist eine die Wirkung des Emissionskontrollsystems verringernde Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zulässig, wenn sie es ermöglicht, den Motor vor plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden zu schützen.
[110] Hierzu ist festzustellen, dass die Verschmutzung und der Verschleiß des Motors nicht als „Beschädigung“ oder „Unfall“ im Sinne der genannten Bestimmung angesehen werden können, denn sie sind, wie die Kommission ausführt, im Prinzip vorhersehbar und der normalen Funktionsweise des Fahrzeugs inhärent.
[111] Diese Auslegung wird durch den Kontext von Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bestätigt, der eine Ausnahme vom Verbot der Verwendung von Abschalteinrichtungen enthält, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, sowie durch das mit der Verordnung verfolgte Ziel. Jede Ausnahme ist nämlich eng auszulegen, unter Wahrung ihrer praktischen Wirksamkeit und unter Beachtung ihrer Zielsetzung (vgl. entsprechend EuGH, Urt. v. 03.09.2014 – C-201/13, EU:C:2014:2132 Rn. 22 und 23 – Deckmyn und Vrijheidsfonds).
[112] Da Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 eine Ausnahme vom Verbot der Verwendung von Abschalteinrichtungen darstellt, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist er eng auszulegen.
[113] Eine solche Auslegung wird auch durch das mit der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 verfolgte Ziel bestätigt, das darin besteht, in der Union die Umwelt zu schützen und die Luftqualität zu verbessern; dies impliziert eine wirksame Verringerung der NOX-Emissionen während der gesamten normalen Lebensdauer der Fahrzeuge. Das Verbot, auf das sich Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bezieht, würde ausgehöhlt und jeder praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn es zulässig wäre, dass die Hersteller Fahrzeuge allein deshalb mit solchen Abschalteinrichtungen ausstatten, um den Motor vor Verschmutzung und Verschleiß zu schützen.
[114] Infolgedessen sind, wie die Generalanwältin in Nummer 146 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, nur unmittelbare Beschädigungsrisiken, die zu einer konkreten Gefahr während des Betriebs des Fahrzeugs führen, geeignet, die Nutzung einer Abschalteinrichtung zu rechtfertigen.
[115] Nach alledem ist auf Buchstabe b der dritten Frage und auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 5 II 2 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass eine Abschalteinrichtung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen verbessert, damit die in der Verordnung festgelegten Emissionsgrenzwerte eingehalten werden und so die Zulassung dieser Fahrzeuge erreicht wird, nicht unter die in dieser Bestimmung, die den Schutz des Motors vor Beschädigung oder Unfall und den sicheren Betrieb des Fahrzeugs betrifft, vorgesehene Ausnahme vom Verbot solcher Einrichtungen fallen kann, selbst wenn die Einrichtung dazu beiträgt, den Verschleiß oder die Verschmutzung des Motors zu verhindern.