Für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig i. S. von § 826 BGB ist in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln und das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen. Dies wird insbesondere dann bedeutsam, wenn die erste potenziell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens zeitlich auseinanderfallen und der Schädiger sein Verhalten zwischenzeitlich nach außen erkennbar geändert hat (hier: Erstreckung der Verhaltensänderung des VW-Konzerns im sogenannten Dieselskandal ab dem 22.09.2015 auf andere Konzernmarken; Bestätigung von Senat, Urt. v. 08.12.2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84).

BGH, Urteil vom 23.03.2021 – VI ZR 1180/20

Sachverhalt: Der Kläger erwarb im September 2016 von einem Gebrauchtwagenhändler für 25.850 € einen gebrauchten ŠKODA Superb. Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor des Typs EA189 ausgerüstet. Die im Zusammenhang mit diesem Motor verwendete Software führte zu einer Optimierung der Stickstoffoxid(NOX)-Emissionen im behördlichen Prüfverfahren.

Sie bewirkte, dass eine Prüfungssituation, in der der Abgasausstoß gemessen wird, erkannt und die Abgasaufbereitung für deren Dauer optimiert wurde. Im normalen Betrieb außerhalb des Prüfstands war diese Abgasaufbereitung abgeschaltet.

Vor Abschluss des Kaufvertrags, am 22.09.2015, gab die Beklagte eine Ad-hoc-Mitteilung nach § 15 WpHG a.F. heraus, mit der sie die Öffentlichkeit darüber informierte, dass in Dieselfahrzeugen des VW-Konzerns eine Software eingesetzt werde, die zu abweichenden Emissionswerten auf dem Prüfstand und im Realbetrieb führe. Auffällig seien weltweit rund 11 Millionen Fahrzeuge mit Motoren vom Typ EA189. Spätestens am 05.10.2015 war durch eine Pressemitteilung von ŠKODA und eine begleitende Berichterstattung öffentlich bekannt, dass auch Fahrzeuge der Konzernmarke ŠKODA betroffen sind, und zwar auch das von dem Kläger erworbene Fahrzeugmodell. Mittels der Fahrzeug-Identifizierungsnummer (FIN) konnte bei ŠKODA auch online recherchiert werden, ob das eigene Fahrzeug vom VW-Abgasskandal betroffen ist. In der Folgezeit beherrschte dieser Skandal die Berichterstattung in verschiedenen Print- und Onlinemedien und auch die Fernsehberichterstattung.

Das Kraftfahrt-Bundesamt wertete die Software als unzu-lässige Abschalteinrichtung und verpflichtete die Beklagte, die Vorschriftsmäßigkeit der damit ausgestatteten Fahrzeuge durch geeignete Maßnahmen wiederherzustellen. Ein daraufhin von der Beklagten entwickeltes Softwareupdate gab das Kraftfahrt-Bundesamt für den hier betroffenen Fahrzeugtyp im Jahr 2016 frei; der Kläger ließ das Update nach dem Erwerb des Fahrzeugs installieren.

Mit seiner Klage verlangt der Kläger Schadensersatz in Höhe des für das Fahrzeug gezahlten Kaufpreises nebst Zinsen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs, und die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht der Klage im Wesentlichen – unter Anrechnung einer Nutzungsentschädigung und ohne dem Kläger Deliktszinsen zuzusprechen – stattgegeben. Die Revision der Beklagten, die damit ihr Ziel einer vollständigen Klageabweisung weiterverfolgte, hatte Erfolg.

Aus den Gründen: [6]    I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger der geltend gemachte Anspruch aus §§ 826, 31 BGB zu. Die Beklagte habe dem Kläger in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich einen ersatzfähigen Schaden zugefügt, indem sie jenen Motor des Typs EA189 mit der verbotenen Abschaltautomatik nach vorangegangener Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamtes in den Verkehr gebracht habe. Die Sittenwidrigkeit sei nicht dadurch entfallen, dass die Beklagte die Öffentlichkeit im September 2015 darüber informiert habe, dass in VW-Konzernfahrzeugen mit einem EA189-Dieselmotor eine Software eingebaut sei, die zu abweichenden Abgaswerten bei Prüfstands- und Fahrbetrieb führe. Diese Mitteilung sei nicht geeignet gewesen, künftige Käufer hinreichend über die Betroffenheit einzelner Fahrzeuge und die möglichen Konsequenzen zu informieren. Maßgeblich sei der Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Motors zum Einbau in ein Fahrzeug, auf eine bewusste Täuschung des Käufers zum Zeitpunkt des Kaufvertrags komme es, zumal die Beklagte hieran nicht beteiligt gewesen sei, nicht an. Der Schädigungsvorsatz habe sich in der Folgezeit bis zum Kauf in 2016 fortgesetzt.

[7]    Auch die Kausalität der sittenwidrigen vorsätzlichen Handlung für den Schaden sei weder durch die Ad-hoc-Mitteilung vom 22.09.2015 noch durch die vielfältige Medienberichterstattung oder einen konkreten Hinweis durch den Verkäufer auf die Betroffenheit des Fahrzeugs entfallen. Der Kläger habe bei seiner Anhörung überzeugend angegeben, dass er zwar von dem Dieselskandal bei VW gewusst habe. Er habe aber nicht gewusst, dass auch der gekaufte Fahrzeugtyp von ŠKODA hiervon betroffen sei, andernfalls er das Auto nicht gekauft hätte.

[8]    II. Die Revision der Beklagten ist begründet. Dem Kläger stehen keine – hier allein in Betracht kommenden – deliktsrechtlichen Ansprüche gegen die Beklagte zu.

[9]    1. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann der Kläger den geltend gemachten Schadensersatzanspruch nicht auf § 826 BGB stützen.

[10]   a) Wie der Senat bereits mit Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 30 f. m. w. Nachw. – und Urteil vom 08.12.2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 12 – ausgeführt hat, ist für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als (nicht) sittenwidrig in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln, weshalb ihr das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen ist. Dies wird insbesondere dann bedeutsam, wenn die erste potenziell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens zeitlich auseinanderfallen und der Schädiger sein Verhalten zwischenzeitlich nach außen erkennbar geändert hat. Zu kurz greift es daher, in solchen Fällen entweder, wie es hier das Berufungsgericht mit der Fokussierung auf das Inverkehrbringen getan hat, nur auf den Zeitpunkt des haftungsbegründenden Handelns oder nur auf den des Schadenseintritts abzustellen. Im Falle der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung gemäß § 826 BGB wird das gesetzliche Schuldverhältnis erst mit Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten begründet, weil der haftungsbegründende Tatbestand des § 826 BGB die Zufügung eines Schadens zwingend voraussetzt. Deshalb kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber als nicht sittenwidrig zu werten sein. Eine solche Verhaltensänderung kann somit bereits der Bewertung seines Gesamtverhaltens als sittenwidrig gerade in Bezug auf den geltend gemachten, erst später eingetretenen Schaden und gerade im Verhältnis zu dem erst später Geschädigten entgegenstehen und ist nicht erst im Rahmen der Kausalität abhängig von den Vorstellungen des jeweiligen Geschädigten zu berücksichtigen. Hieran hält der Senat auch in Ansehung des von dem Kläger angeführten teilweise kritischen Schrifttums fest.

[11]   b) Bei der demnach gebotenen Gesamtbetrachtung ist auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen und von der Revisionserwiderung nicht infrage gestellten Feststellungen das Verhalten der Beklagten gegenüber dem Kläger nicht als sittenwidrig zu beurteilen.

[12]   aa) Der Senat hat im Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 – auf Grundlage der im dortigen Verfahren getroffenen Feststellungen unter anderem ausgeführt, dass die vom Berufungsgericht festgestellte Verhaltensänderung der Beklagten wesentliche Elemente, die das Unwerturteil ihres bisherigen Verhaltens gegenüber bisherigen Käufern begründeten, derart relativiert, dass der Vorwurf der Sittenwidrigkeit bezogen auf ihr Gesamtverhalten gerade gegenüber späteren Käufern und gerade im Hinblick auf den Schaden, der bei diesen durch den Abschluss eines ungewollten Kaufvertrags nach dem 22.09.2015 entstanden sein könnte, nicht mehr gerechtfertigt ist (Senat, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 34).

[13]   Bereits die Mitteilung der Beklagten vom 22.09.2015 war objektiv geeignet, das Vertrauen potenzieller Käufer von Gebrauchtwagen mit VW-Dieselmotoren in eine vorschriftsgemäße Abgastechnik zu zerstören, diesbezügliche Arglosigkeit also zu beseitigen. Aufgrund der Verlautbarung und ihrer als sicher vorherzusehenden medialen Verbreitung war typischerweise nicht mehr damit zu rechnen, dass Käufer von gebrauchten VW-Fahrzeugen mit Dieselmotoren die Erfüllung der hier maßgeblichen gesetzlichen Vorgaben noch als selbstverständlich voraussetzen würden. Für die Ausnutzung einer diesbezüglichen Arglosigkeit war damit kein Raum mehr; hierauf konnte das geänderte Verhalten der Beklagten nicht mehr gerichtet sein. Aus der Mitteilung vom 22.09.2015 ging weiter hervor, dass „die zuständigen Behörden“ und das Kraftfahrt-Bundesamt bereits involviert waren. Indem die Beklagte ihre Vertragshändler über die Verwendung der Abschalteinrichtung informiert hat, hat sie sie zudem in die Lage versetzt, etwaige Kaufinteressenten über die Abgasproblematik der betroffenen Fahrzeuge aufzuklären (Senat, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 37).

[14]   Dass die Beklagte die Abschalteinrichtung nicht selbst als illegal gebrandmarkt hat, sondern im Gegenteil dieser (zutreffenden) Bewertung in der Folgezeit entgegengetreten ist, dass sie eine bewusste Manipulation geleugnet hat und dass sie möglicherweise weitere Schritte zur umfassenden Aufklärung hätte unternehmen können, reicht für die Begründung des gravierenden Vorwurfs der sittenwidrigen Schädigung gegenüber späteren Käufern nicht aus. Insbesondere war ein aus moralischer Sicht tadelloses Verhalten der Beklagten oder eine Aufklärung, die tatsächlich jeden potenziellen Käufer erreicht und einen Fahrzeuger-werb in Unkenntnis der Abschalteinrichtung sicher verhindert, zum Ausschluss objektiver Sittenwidrigkeit nicht erforderlich (Senat, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 38).

[15]   bb) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ergibt sich nichts anderes aus dem Umstand, dass der Kläger im Streitfall ein Fahrzeug der Marke ŠKODA und nicht der Marke Volkswagen erworben hat. Die Beklagte hat ihre Verhaltensänderung nicht auf ihre Kernmarke Volkswagen beschränkt, sondern im Gegenteil bereits in ihrer Ad-hoc-Mitteilung vom 22.09.2015 darauf hingewiesen, dass die betreffende Steuerungssoftware auch in anderen Dieselfahrzeugen des Volkswagen-Konzerns vorhanden und dass der Motor vom Typ EA189 auffällig sei, ohne diesbezüglich eine Einschränkung auf eine bestimmte Marke des Konzerns vorzunehmen. Das mit der Ad-hoc-Mitteilung vom 22.09.2015 geänderte Verhalten der Beklagten war generell, das heißt hinsichtlich aller Konzernmarken, nicht mehr darauf angelegt, das Kraftfahrt-Bundesamt und arglose Erwerber zu täuschen (Senat, Urt. v. 08.12.2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 17).

[16]   Dass die Beklagte möglicherweise auch im Hinblick auf die von ihrer Kernmarke Volkswagen abweichenden Marken ihrer Konzerntöchter weitere Schritte zu einer klareren Aufklärung potenzieller, mit der Konzernstruktur und dem Markenportfolio der Beklagten nicht vertrauten Fahrzeugkäufer hätte unternehmen können, steht der Verneinung eines objektiv sittenwidrigen Vorgehens im Verhältnis zum Kläger und im Hinblick auf den von diesem im September 2016 abgeschlossenen Kaufvertrag ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass, wie der Streitfall zeigt, nicht jeder potenzielle Käufer subjektiv verlässlich über die Verwendungsbreite der unzulässigen Abschalteinrichtung in den verschiedenen Marken der Beklagten informiert wurde (Senat, Urt. v. 08.12.2020 – VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 18).

[17]   Im Übrigen zeigt der Streitfall, ohne dass es hierauf für die Entscheidung ankäme , dass auch der hiesige Kläger im Hinblick auf die Manipulationssoftware nicht mehr arglos war und die Erfüllung der maßgeblichen gesetzlichen Vorgaben bei gebrauchten Fahrzeugen mit Dieselmotoren nicht mehr als selbstverständlich voraussetzte. Der Kläger hatte vielmehr Kenntnis von der Berichterstattung über den Abgasskandal; auch war ihm bekannt, dass die Marke ŠKODA zum Volkswagen-Konzern gehört.

[18]   cc) Soweit die Revision darauf abstellt, dass das Berufungsgericht einen bis zum Kauf im Jahr 2016 fortbestehenden Schädigungsvorsatz der Beklagten festgestellt habe, verhilft ihr dies schon deshalb nicht zum Erfolg, weil es aus den zuvor genannten Gründen bei der gebotenen Gesamtbetrachtung an der objektiven Sittenwidrigkeit des Verhaltens der Beklagten fehlte.

[19]   Der Klaganspruch ergibt sich auch nicht aus § 823 II BGB i. V. mit §§ 6 I, 27 I EG-FGV oder Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 (Senat, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 10 ff.) oder aus § 823 II BGB i. V. mit § 263 I StGB, § 31 BGB (Senat, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20, NJW 2020, 2798 Rn. 17 ff.).

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